Ich meine, liebe Freundinnen und Freunde, wie seltsam ist das denn hier?!

Am Tag nachdem ich der Bettlerin (siehe ganz oben) gegen meine Gewohnheit etwas gegeben hatte, lese ich in Wolfgang Herrndorfs Arbeit und Struktur den Satz: „Wenn mit Lebenden einmal so pietätvoll umgegangen würde wie mit Toten oder Sterbenden oder wenigstens ein vergleichbares Gewese drum gemacht würde.“

Dann: „… die zusammengeschrumpelte, achtzig- oder neunzigjährige Frau zwischen Chaussee- und Invalidenstraße, ein kleines Becherchen vor sich auf dem Trottoir, durchaus nicht verwahrlost, keine mitgeführten Plastiktüten, vermutlich nicht mal obdachlos.

Entschließt sich zu ihrer Tat, wenn ich das richtig sehe, nur sehr unregelmäßig und im Abstand einiger Wochen, wenn das Hartz IV oder was auch immer verbraucht ist.“

Dann: „Für gewöhnlich gebe ich Bettlern nichts, wenn ich nicht Münzen direkt griffbereit habe, aber wegen dieser Frau musste ich schon zweihundert Meter zurücklaufen, die zieht mir völlig den Stecker. Vor allem das Gesicht, wo man sieht: unverschuldet, Altersarmut, Hölle.“

Jeden Tag lese ich in Herrndorfs Buch, das posthum erschienen ist, entstanden aus einem Blog, einem Internet-Tagebuch, das er von 2010, nachdem bei ihm ein bösartiger Hirntumor festgestellt worden war, bis zu seinem Suizid 2013 führte, zunächst einfach, um Freunde und Bekannte auf dem Laufenden zu halten und nicht jedem immer alles extra sagen zu müssen, dann halt auch als Projekt.

Für den Fall, dass jemand der Name Herrndorf nichts sagt: 1965 in Hamburg geboren, Maler und Illustrator, Mitautor des Internetforums Wir höflichen Paparazzi und des Weblogs Riesenmaschine (habe ich alles immer gerne gelesen), dann unter anderem der Romane Tschick (ein Jahr Bestsellerliste, verfilmt, Riesenerfolg, großer Erfolg auch im Theater in der Fassung von Robert Koall, der auch die Theaterfassung meines Buches Die Tage, die ich mit Gott verbrachte schrieb) und Sand (Preis der Leipziger Buchmesse, Shortlist Deutscher Buchpreis). Alles Bücher übrigens, die er vor seinem Tod noch schreiben konnte, weil er nach der Diagnose seines Glioblastoms so strukturiert weiterarbeitete, wie er es in Arbeit und Struktur beschreibt, und die erschienen, als er schon von seiner Krankheit wusste.

Im August 2013 starb er.

Ein großartiges Buch. Ich hatte lange Angst davor, es zu lesen. Kann man vor einem Buch Angst haben? Aber ja, wenn es um Leben und Tod in Wirklichkeit geht, und es geht ja hier auch um alles, seine Arbeit, seine Krankheit, die Diagnosen, die Behandlungen, die Operationen, die Anfälle, seinen Alltag und wieder seine Arbeit. „Es gibt in der Geschichte der Tagebücher nichts, was ihm gleichkäme an Takt, Wärme, dunklem Witz, Sarkasmus und stillem Grauen“, hat der Literaturkritiker Michael Maar darüber geschrieben, man zitiert es im Klappentext.

So ist es. Wärme, dunkler Witz, stilles Grauen.

Es liegt gerade immer vor meinem Lesesessel im Büro. Manchmal lasse ich mich in einer Pause in den Sessel fallen, lese fünf Minuten Herrndorf, dann geht es weiter mit dem Schreiben. Soviel zur Struktur der Arbeit bei mir.

Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur. rororo. 12 Euro