Ich sitze im Zug und schreibe, auf der Rückfahrt von einer Lesung. Draußen ist gerade Fulda, glaube ich.

Neben mir isst eine ältere Dame ein Vollkornbrot. Nach jedem Biss legt sie es sorgfältig wieder in ihre Tupperware zurück. Man hat das Gefühl, sie habe gerade den Volkshochschulkurs „Langsam essen, sorgfältig kauen und genießen“ mit Auszeichnung bestanden. Vor mir versucht ein Herr trotz der chronisch schlechten Mobilfunkverbindung in dieser Gegend einige Abläufe in seiner Firma zu optimieren. („Das soll Müller-Sawitzki machen, aber heute noch, sonst habe ich wieder Ärger mit Baunatal, das kenne ich doch!“)

Ich kann, wenn es darauf ankommt, eigentlich überall schreiben, das habe ich in meiner Zeit als Sportreporter gelernt. Für uns war die Stadiontribüne ein normaler Arbeitsplatz, wir schrieben während der Spiele an Plätzen, die zum Beispiel auf Schalke in Gelsenkirchen als „Presse mit Tische“ gekennzeichnet waren. (Das hat der legendäre Kollege Horst Vetten mal so notiert.) Manchmal hockte man auch mitten im Publikum, die Schreibmaschine auf den Knien. Die Leute lasen über die Schulter mit und riefen sich zu: „Kuck mal, was der hier schreibt!“

In Fußballgefühle habe ich einen kalten Märztag 1982 im Stadion von Waldhof Mannheim mal so beschrieben: „Damals gab es noch keine Computer. Wir Reporter tippten immer während des Spiels aufs Papier und mussten, schon während noch gekickt wurde, einem Stenografen am Telefon den Text abschnittsweise diktieren, der alles seinerseits aufschrieb, damit es der Redakteur bearbeiten und im Laufschritt persönlich oder per Rohrpost den Setzern weiterleiten konnte, die an ihren großen Maschinen den Bericht in Bleizeilen gossen, alles in höchster Eile, damit der Artikel die erste Ausgabe der Zeitung noch erreichte. Das Telefon stand zwischen meinen Füßen. Die Leute schrien so laut, dass ich den Stenografen gar nicht hören konnte, ich brüllte ihn am Telefon an, er solle einmal ‚Hier!‘ schreien, damit ich überhaupt wisse, dass er da sei – dann grölte ich meinen Bericht in den Apparat, immer in der Hoffnung, halbwegs richtig verstanden zu werden. Seltsam, auf einer Tribüne unter aufgeregt-lauten Menschen jemandem so einen Bericht zuzuschreien.“

Jedenfalls bin ich nicht zu schrecken durch die Vollkornbrote zermahlenden Kiefer einer Mitreisenden. Die Jahre in den Stadien waren eine gute Schule für das, was später kam, für die Zeit an Schreibtischen in Hotelzimmern, an deren Türen mittags alle fünf Minuten das Zimmermädchen klopfte und „Wann du weg?“ fragte, während ich über meinem Anstands-Buch grübelte. Sie haben mich gestählt für die verregneten Ferientage, während derer ich am Küchentisch eine Kolumne verfertigte, während der Rest der Familiedas Mittagessen vorbereitete. Wenn ich schreibe, errichte ich um mich herum eine Art unsichtbarer Mauer, und die Welt ist mir egal.

Wie hätte ich sonst 1984 bei den Olympischen Spielen in Sarajewo auf dem Herrenklo eines viel zu kleinen Pressezentrums über den Riesenslalom der Frauen berichten können? Ein anderer Platz war nirgends frei, und auch diesen musste ich gegen russische Kollegen mit dringenden Bedürfnissen verteidigen, solange es ging. (Irgendwann gab ich auf und tippte an der Fensterbank im Stehen weiter.) Wie anders hätte ich 1990, auf einem Autositz mitten in Berlin hockend, über die Ergebnisse der ersten und letzten freien Wahlen in der DDR schreiben sollen? Zum Hotel war es zu weit, also blieb nur der Parkplatz.

Manchmal ist es gut, wenn man sich mitten im Leben befindet, wenn man schreibt. Mein schlimmstes Arbeitserlebnis hatte ich in der nächtlichen Einsamkeit eines Schlosses in Schottland. Da musste ich unter höchstem Zeitdruck ein Porträt Bernhard Langers verfassen, einem der besten Golfspieler und auch einem der langweiligsten Menschen der Welt. Ich hatte ihn während einer Trainingsrunde auf dem Platz in Turnberry (der heute Donald Trump gehört) interviewt, und er hatte, wenn überhaupt, immer nur Ja oder Nein geantwortet, wenig Material für eine ganze Zeitungsseite. Ich saß allein in diesem verdammten Spukschloss, und als der Morgen graute, saß ich bis zum Hals in zerknülltem Manuskriptpapier, schlief eine Stunde im Sitzen und brachte es dann zu Ende, irgendwie.

Vielleicht wäre es nicht schlecht, jeden Tag im Café zu arbeiten, umgeben von Leuten und vom Leben. Erich Kästner hat es so gemacht, Loriot eine Zeitlang auch. Er produzierte in seinen Anfängen jede Woche einen Strip für den Stern über Reinhold, das Nashorn. Den habe er, so erzählte er mir mal, immer im Café Luitpold in München gezeichnet, und weil Reinhold in den Bildern rot-orange gefärbt war, färbte sich auch das Wasser im Glas, in das er seinen Pinsel tauchte, allmählich rot-orange. Das habe, sagte er, so schön ausgesehen, dass einmal zwei Damen am Nebentisch den Kellner baten, er möge ihnen auch so ein hübsches Getränk bringen wie der Herr nebenan es habe.

Da fällt mir ein, dass ich mal eine Lesung gemeinsam mit einigen Kollegen hatte. Wir saßen ungefähr zu acht auf einer Bühne, Wiglaf Droste war dabei und auch mein verehrter Kollege Herbert Riehl-Heyse. Der notierte, während andere gerade vortrugen, die ganze Zeit etwas auf einem Blatt Papier. „Was machst du?“, flüsterte ich. „Ich schreibe was Neues. Das, was ich dabei habe, passt hier nicht“, flüsterte er zurück. Zehn Minuten später las er dem Publikum vor, was er gerade geschrieben hatte, und es war, wie immer bei ihm, großartig.

So was könnte ich aber nun wirklich nicht.

Die Frau hat ihr Brot aufgegessen, sie schließt ihre Schachtel und seufzt. Der Herr vor mir versinkt schnarchend in einem Nickerchen. Irgendwo draußen macht sich Müller-Sawitzki an die Arbeit.

Ich klappe den Laptop zu und lese Zeitung. Morgen arbeite ich mal wieder im Büro. Ich freue mich darauf.