Texte von mir

Aus dem Büro
  • Verspätungen durch Lesen
    Wie alle Bahnfahrer bin auch ich sehr oft verspätet, das liegt meistens an der Bahn, an defekten Zügen, verpassten Anschlüssen, durch vorausfahrende Züge noch belegten Gleisen und kaputten Weichen. Einmal vor vielen Jahren […]
  • Pfettfropfen im Frühling
    In meiner Kolumne im Süddeutsche Zeitung Magazin habe ich kürzlich etwas über unseren steten Kampf mit der defekten Geschirrspülmaschine geschrieben und wie unser Leben sich zu einem einzigen Ringen mit dem immer wieder […]
  • Die Kindergrippe
    Leser N. schickte mir diesen Screenshot eines Inserats auf Immowelt. Ich postete das auf meiner Facebook-Seite im Rahmen einer kleinen Rubrik, die Neues aus Sprachland heißt, und schrieb dazu, meines Wissens stehe die Kindergrippe in diesem Frühjahr aber […]
  • Die Bettlerin
    Neulich abends hatte ich eine Besprechung samt Abendessen im Schumann’s, nach wie vor einer der Hauptschauplätze des Luxus und der Moden in München. Auf dem Heimweg durch die Stadt begegne ich vor einem der richtig […]
  • Der Feuerwehrmann hinter der Bühne
    Heute ist der erste Weihnachtsfeiertag. Aber ich will jetzt keine Weihnachtsgeschichte erzählen. Bloß ein einfaches Erlebnis, das ich neulich hatte. Vor drei Wochen fand meine jährliche Lesung im Berliner Schlossparktheater statt, einem Haus, […]
  • Der Mut der frühen Stunde
    Der Schweizer Autor Lukas Bärfuss, den ich sehr schätze, hat kürzlich der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein langes Interview gegeben. Es ging um den Reichtum der Schweiz, seine von Armut geprägte Kindheit, auch um […]
  • Aus der Bürobibliothek
    Vor langer Zeit habe ich Hackes Tierleben geschrieben, Michael Sowa hat das Buch damals illustriert, und wegen seiner Bilder liebe ich es sehr, weil es so schön ist. Vor drei Jahren hat es […]
  • Über die Heiterkeit
    Für das Magazin ZEITWissen habe ich in den vergangenen Wochen an einem Aufsatz über die Heiterkeit als einer grundsätzlichen Haltung dem Leben gegenüber geschrieben. Es ging darum, wie es gelingen kann, sich eine solche Einstellung […]

Mein Leben in Dingen

Einmal, als es mir eine Zeitlang nicht gut ging, schenkte mir meine Frau diese alte Porzellantasse. Vorne steht „Sei glücklich“. Und tatsächlich, es funktioniert. Immer wenn ich diese Tasse in die Hand nehme, bin ich glücklich. Deshalb tue ich das jeden Tag mindestens einmal, übrigens ohne daraus zu trinken. Ich habe Angst, die Tasse könnte bei Benutzung Schaden nehmen, so dass es mit meinem Büroglück auf der Stelle für immer zu Ende wäre. Und wer weiß: Tränke ich aus der Tasse einen Kaffee oder Tee, vielleicht wäre das Glück, das ich so gewissermaßen als Flüssigkeit zu mir nähme, dann gar nicht mehr auszuhalten?

Ich weiß nicht mehr, woher ich dieses kleine Schwein habe, vermutlich habe ich es vor Jahrzehnten bei irgendeinem Trödler gekauft.

Ich mag Schweine, es sind sehr intelligente, gesellige Tiere, denen viel Unrecht geschieht in dieser Welt. Wobei ich kein Vegetarier bin, aber ein Gegner der Massentierhaltung in ihrer heute so weit verbreiteten Form. Aber wer wäre das nicht!? Schweine aus Holz isst jedoch keiner, und dieses hier ist aus Holz, geschnitzt aus einem Stück, nur das Ringelschwänzchen wurde nachträglich eingesetzt.

Ich nehme es fast jeden Tag einmal in die Hand und betrachte es. Es hat einen missmutigen Gesichtsausdruck und schaut ein wenig feindselig, aber es fasst sich gut an, rundlich und fest.

„Schweine sind uns nah und fern zugleich“, schreibt Thomas Macho in seinem äußerst lesenswerten, in der schönen Reihe Naturkunden bei Matthes & Seitz erschienenen Buch Schweine. „Wer eine Genealogie der Ambivalenz entwerfen wollte, braucht nur die Geschichte der Schweine studieren. Und in ihr den Widerspruch zwischen dem Überfluss des Imaginären, der Allegorien, Sprichworte, Bilder und Artefakte – und der zunehmenden Unsichtbarkeit der Schlachthöfe und Massentierhaltungspraktiken. Einer gesteigerten Sichtbarkeit entspricht eine außerordentliche Blindheit, ein vergessener und verdrängter Alltag der Grausamkeiten, zugleich aber auch eine diffuse Angst und Schuld ...“

Vielleicht stand das einmal im Schaufenster eines Metzgers. Vielleicht auch nicht. Jetzt ist es jedenfalls bei mir. Und da bleibt es auch.

Das ist die Krone des kleinen Königs Dezember. Er hat sie bei mir gelassen, weil er eine kleinere brauchte. Er schrumpft ja immer weiter, und diese wurde ihm zu schwer. Ich bewahre sie sicher unter einem kleinen Glassturz auf, denn sie ist wirklich aus Gold. Rechts daneben sieht man eine Schachtel, die einmal jemand für mich gebastelt hat, dem das Buch gut gefallen hatte: vor allem die Geschichte, in der es um die Träume von Dezember geht, die er nämlich in solchen Schachteln aufbewahrt.

Sie steht immer auf meinem Schreibtisch, ganz in der Nähe der Krone. Und es rührt mich jedes Mal sehr, wenn ich sie sehe: dass die Geschichte des Königs Leute so sehr beschäftigt, dass sie so etwas basteln und es mir schenken.

„Was bewahrst du in diesen Schachteln auf?“, fragte ich.

„Meine Träume“, sagte der König Dezember.

„Deine Träume!?“, rief ich.

„Alle meine Träume“, sagte der König. „In jeder Schachtel ist ein Traum.“

„Aber wie träumst du deine Träume, wenn du sie in Schachteln hast?“, fragte ich.

„Abends, wenn ich schlafen gehe“, sagte der König, „nehme ich eine Schachtel aus dem Regal, stelle sie neben mein Bett und nehme den Deckel ab. Dann schlafe ich ein und träume. Und morgens, wenn ich aufgewacht bin, bleibe ich noch ein bisschen liegen und erinnere mich an die Nacht. Dann tue ich den Traum wieder in die Schachtel und stelle sie ins Regal zurück.“

Die Dose hat mir vor Jahren Peter Kaack geschenkt, weil ihm mein Buch Fußballgefühle so gefallen hatte. Peter war Verteidiger in der Meistermannschaft von Eintracht Braunschweig 1967 und einer der Helden meiner Kindheit. Oft frage ich mich, in welchem Zustand sich der Inhalt dieser Bierbüchse befinden mag. Aber es könnte sein, dass ich es nie erfahren werde.

Ich stelle die Zahnpasta immer auf den Deckel, wie man es ja auch vernünftigerweise machen sollte. Meine Frau legt sie immer hin. Irgendwann fand ich eine Lösung, die uns beiden gerecht wurde, und unsere Ehe hat bis heute gehalten.

In meinem Elternhaus wohnte ein Vertreter von Idee-Kaffee als Untermieter. Der hatte solche Schränkchen für seine Kunden. Als Kind saß ich oft davor und träumte von den Orten, die darauf verzeichnet sind: Timor, Celebes und Menado, von Arabien und Abessinien, auch Bahia, Minas Geraes und Sao Paulo. Ich liebte das Design und den Kaffeegeruch aus dem Lager von Vorräten, die der Vertreter im Keller untergebracht hatte. Und zweitens? Ein Mann wie ich braucht im Büro einen Behälter für Ideen, die er nicht sofort verwerten kann und aufheben muss. Die sind da alle drin.

Bücher, die ich gerade lese

The Good Mothers. In Deutschland auf Disney+

In den vergangenen Monaten habe ich aber mit Hochdruck an Über die Heiterkeit ... gearbeitet. Und seltsamerweise konnte und wollte ich abends dann nicht lesen wie sonst. Es störte mich einfach, Abend für Abend die Geschichten anderer zu lesen, während ich selbst Tag für Tag schrieb. Vielleicht war ich auch zu abgespannt.

Also sah ich abends Serien, die mich komplett aus meiner Tagesroutine herausholten und in eine andere Welt brachten, Succession zum Beispiel: äußerst empfehlenswert. (Die vierte Staffel läuft gerade noch bei Wow.) Oder Better Call Saul (auf Netflix), ein sogenanntes Spin-off von Breaking Bad, der für mich – neben den Sopranos – vielleicht großartigsten Serie, die es je gab. Da bin ich ein bisschen der Zeit hinterher gewesen, Better Call Saul lief eigentlich zwischen 2015 und 2022. Aber normalerweise schaue ich eben nicht so viele Serien, ich lese mehr. Ich hatte also etwas nachzuholen.

Zwischendurch sah ich The Good Mothers und war begeistert. Es handelt sich um eine Mafia-Miniserie mit sechs Episoden, eine britisch-italienische Produktion, die bei der Berlinale in diesem Jahr den zum ersten Mal verliehenen Serien-Preis erhielt. Aber was heißt Mafia-Serie, in diesem Fall? Hier geht es nicht um die Männer, die alle Verbrecher sind, sondern um deren Frauen, die nichts mehr mit dem Verbrechen zu tun haben wollen.

Basierend auf einem Roman von Alex Perry (der wiederum auf einer wahren Geschichte beruht) erzählt The Good Mothers von einer Staatsanwältin, die den Verbrechern der ’Ndrangheta in Kalabrien das Handwerk legen will und dies mit einem ungewöhnlichen Mittel versucht, indem sie nämlich deren Frauen als Kronzeuginnen gewinnt. Die Serie zeigt die Männer der Organisation als die schmierigen, hässlichen, brutalen Mörder, die sie sind, und die Frauen in ihrer komplexen, komplizierten, äußerst gefährlichen und schicksalhaften Lage. Das ist eine sehr gute Serie mit sehr guten und bis jetzt nicht sehr bekannten (von Micaela Ramazzotti vielleicht abgesehen) Schauspielerinnen: Gaia Girace, Valentian Bellè und Barbara Chichiarelli.

Unbedingt empfehlenswert, wenn Sie einmal nicht lesen, sondern sehen wollen.

The Good Mothers. Regie Julian Jarrold und Elisa Amoruso, Drehbuch Stephen Butchard. In Deutschland auf Disney+.

Maxim Znak, Zekamerone. Geschichten aus dem Gefängnis. Suhrkamp. 20 Euro

Maxim Znak ist 1981 geboren, er ist Anwalt und stand immer auf der Seite der belarussischen Protestbewegung, vertrat Oppositionelle und ist selbst einer, weshalb er im September 2021 zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde. Er ist einer dieser vielen tapferen Menschen, die sich in Belarus wie in Russland dem Terrorismus der Machthaber widersetzen, zu allerhöchsten Preisen, wie man weiß, denn Mord ist, wie wir leider auch wissen, nichts wovor Putin und sein Kumpan Lukaschenko zurückschrecken würden.

Zekamerone (das vom Wort Zek stammt, dem russischen Begriff für Gefangener) ist eine Sammlung von 100 kleinen Geschichten, die Znak im ersten Jahr seiner Gefangenschaft schrieb. Wie sie aus dem Gefängnis an die Öffentlichkeit gelangten, ist ein Geheimnis und muss es bleiben. Der Autor darf nur mit vier Menschen korrespondieren, Vater, Schwester, Frau und Sohn, niemand sonst. Was wir in der Sicherheit unserer Welt lesen, ist unter ständiger Bedrohung und Gefahr geschrieben worden. Und es ist, wie die in den USA lebende belarussische Lyrikern Valzhyna Mort in ihrem Nachwort betont, ein Wunder, dass wir es überhaupt lesen können.

Znak hat all das zuerst seinen Mitgefangenen vorgelesen und sie damit zum Lachen gebracht. Es geht um ihren und seinen Alltag, um die Frage, wie man Zahnschmerzen ohne Medikamente bekämpft, wie vielfältig man mit dem Schaufel oder Gestapowka genannten Aluminiumbecher umgeht, der jeder Gefangene als eines seiner wertvollsten Besitztümer hat, wie man mit den Wärtern, der Angst, der drangvollen Enge in der Zelle umgeht und wie man dort beim täglichen Gang in einem winzigen Hof sogar Marathonlauf trainiert.

Diese kurzen Geschichten sind voller feiner Beobachtungen, Humor, Poesie und Widerstandswillen. Sie zeigen, was jemand sich von seinen Schergen nicht nehmen lässt, selbst unter schlimmstem Druck nicht, wie einer Mensch bleibt, eingesperrt von Unmenschen. Deshalb sollte man sie lesen, auch und vor allem, weil es einfach großartige Miniaturen sind, eine wie die andere.

Maxim Znak, Zekamerone. Geschichten aus dem Gefängnis. Aus dem Russischen von Henriette Reisner und Volker Weichsel. Suhrkamp. 20 Euro

Michael Maar, Fliegenpapier. Vermischte Notizen. Rowohlt

In der Post ist ein kleines Buch, Mit herzlichen Grüßen von Michael Maar, den ich zu meinem Bedauern persönlich gar nicht kenne. Aber die Presseabteilung des Rowohlt-Verlages schickt mir trotzdem und zu meiner Freude dieses Werk: Fliegenpapier

Selbstverständlich schaue ich sofort nach, was das ist, ein Fliegenpapier, und entdecke: Damit sind diese klebrigen Streifen gemeint, die man früher (und manchmal noch heute) aufhängte (oder eben aufhängt), damit an ihnen die lästigen Fliegen hängenblieben und -bleiben. 

So geht es mir seitdem mit dem Buch. Es liegt neben einem Sessel und bisweilen, wenn ich mich in diesen Sessel fallenlasse, lese ich darin und bleibe selbstverständlich hängen, länger als ich wollte, weil das Buch so unterhaltsam ist. Bloß, im Gegensatz zur Fliege: Ich schwebe doch irgendwann wieder davon und tue meine Dinge, froh, keine Fliege zu sein, sondern mich durch das Buch in erheitertem Zustand zu befinden. 

Maar ist Germanist, Kritiker und vielmals ausgezeichneter Schriftsteller. Vor drei Jahren habe ich sein wirklich tolles Buch Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literaturgelesen, auch ein Werk übrigens, das man immer mal wieder und so zwischendurch lesen kann, eine Art von spielerischer, vergnüglicher und bildender Literaturgeschichte.  

Fliegenpapier ist etwas anderes, eine kleine Sammlung von Notizen, Lesefrüchten, Anekdoten, Aphorismen, alles so neben der Arbeit und mitten im Leben entstanden. Maar hat seinen Stoff überall gefunden, beim fränkischen Sparkassenberater einerseits, der auf den Seufzer, man müsse vom Telefon- nun wohl jetzt zum Online-Banking wechseln, mit dem Satz „Ja, das ist jetzt der Zahn der Zeit“ reagiert, bis, andererseits, zu einer Fußnote in irgendeinem Werk Peter Sloterdijks, der Paul Valéry zitiert: Gott habe die Welt aus dem Nichts geschaffen. Aber das Nichts schimmere durch. 

Solche Bücher muss man überall liegen haben, Zwischendurch-Lektüren, Kolumnen von Doris Knecht, Ina Strübel oder Kathrin Passig, Heinz Berggruens, des großen Galeristen, Spielverderber, nicht alle oder, vor langer Zeit, Werner Fulds erfundene Kafka-Anekdoten, geistige Imbisse quasi, nicht große Gerichte. Maar schreibt im Vorwort, seine kleinen Texte seien nach keinem anderen Prinzip geordnet als dem der Petersburger Hängung. 

Das musste ich selbstverständlich auch nachschauen und las bei Wikipedia, mit dem Begriff sei eine besonders enge und dichte Hängung von sehr viele Gemälden gemeint, das Wort gehe auf die üppig bestückten Wände der Sankt Petersburger Eremitage zurück. Und dann: „Objekt der Bewunderung ist letztlich nicht das einzelne Bild, sondern derjenige, der über die Mittel verfügt, eine große Kunstsammlung zusammenstellen zu können.“ 

Ja, Maar hat diese Mittel, und ich bewundere ihn dafür, mit großem Vergnügen und auch voller Neid auf dieses große Wissen, das überall seine Quellen hat und aus allen schöpft, und das er uns hier mal so eben zur Verfügung stellt.

Michael Maar, Fliegenpapier. Vermischte Notizen. Rowohlt. 20 Euro

Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur. rororo

Ich meine, liebe Freundinnen und Freunde, wie seltsam ist das denn hier?!

Am Tag nachdem ich der Bettlerin (siehe ganz oben) gegen meine Gewohnheit etwas gegeben hatte, lese ich in Wolfgang Herrndorfs Arbeit und Struktur den Satz: „Wenn mit Lebenden einmal so pietätvoll umgegangen würde wie mit Toten oder Sterbenden oder wenigstens ein vergleichbares Gewese drum gemacht würde.“

Dann: „… die zusammengeschrumpelte, achtzig- oder neunzigjährige Frau zwischen Chaussee- und Invalidenstraße, ein kleines Becherchen vor sich auf dem Trottoir, durchaus nicht verwahrlost, keine mitgeführten Plastiktüten, vermutlich nicht mal obdachlos.

Entschließt sich zu ihrer Tat, wenn ich das richtig sehe, nur sehr unregelmäßig und im Abstand einiger Wochen, wenn das Hartz IV oder was auch immer verbraucht ist.“

Dann: „Für gewöhnlich gebe ich Bettlern nichts, wenn ich nicht Münzen direkt griffbereit habe, aber wegen dieser Frau musste ich schon zweihundert Meter zurücklaufen, die zieht mir völlig den Stecker. Vor allem das Gesicht, wo man sieht: unverschuldet, Altersarmut, Hölle.“

Jeden Tag lese ich in Herrndorfs Buch, das posthum erschienen ist, entstanden aus einem Blog, einem Internet-Tagebuch, das er von 2010, nachdem bei ihm ein bösartiger Hirntumor festgestellt worden war, bis zu seinem Suizid 2013 führte, zunächst einfach, um Freunde und Bekannte auf dem Laufenden zu halten und nicht jedem immer alles extra sagen zu müssen, dann halt auch als Projekt.

Für den Fall, dass jemand der Name Herrndorf nichts sagt: 1965 in Hamburg geboren, Maler und Illustrator, Mitautor des Internetforums Wir höflichen Paparazzi und des Weblogs Riesenmaschine (habe ich alles immer gerne gelesen), dann unter anderem der Romane Tschick (ein Jahr Bestsellerliste, verfilmt, Riesenerfolg, großer Erfolg auch im Theater in der Fassung von Robert Koall, der auch die Theaterfassung meines Buches Die Tage, die ich mit Gott verbrachte schrieb) und Sand (Preis der Leipziger Buchmesse, Shortlist Deutscher Buchpreis). Alles Bücher übrigens, die er vor seinem Tod noch schreiben konnte, weil er nach der Diagnose seines Glioblastoms so strukturiert weiterarbeitete, wie er es in Arbeit und Struktur beschreibt, und die erschienen, als er schon von seiner Krankheit wusste.

Im August 2013 starb er.

Ein großartiges Buch. Ich hatte lange Angst davor, es zu lesen. Kann man vor einem Buch Angst haben? Aber ja, wenn es um Leben und Tod in Wirklichkeit geht, und es geht ja hier auch um alles, seine Arbeit, seine Krankheit, die Diagnosen, die Behandlungen, die Operationen, die Anfälle, seinen Alltag und wieder seine Arbeit. „Es gibt in der Geschichte der Tagebücher nichts, was ihm gleichkäme an Takt, Wärme, dunklem Witz, Sarkasmus und stillem Grauen“, hat der Literaturkritiker Michael Maar darüber geschrieben, man zitiert es im Klappentext.

So ist es. Wärme, dunkler Witz, stilles Grauen.

Es liegt gerade immer vor meinem Lesesessel im Büro. Manchmal lasse ich mich in einer Pause in den Sessel fallen, lese fünf Minuten Herrndorf, dann geht es weiter mit dem Schreiben. Soviel zur Struktur der Arbeit bei mir.

Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur. rororo. 12 Euro