Texte von mir

Aus dem Büro

Mein Leben in Dingen

Jedenfalls habe ich für meinen Dreisiebener eine mehr als vierzig Zentimeter hohe alte Glaskuppel gekauft und ihn auf rot leuchtenden Filz gebettet, eine Selbstmusealisierung, ein Stillleben, nature morte. Ich kann mir vorstellen, dass es Leute gibt, die mich für einen Kauz halten deswegen.

Mir egal.

Jeden Tag schaue ich ihn an, auf seinem Filzbett, auf dem leuchtenden Rot unter der Glaskuppel. Wie ein Mahnmal liegt er da, leise warnend: Sei gut zu deinen Zähnen, die du noch hast, zu meinen Brüdern in deinem Mund!

Aus Aua! Die Geschichte meines Körpers

Dieses Schild hängt seit Jahrzehnten in meinem Büro, mein Bruder hat es mir geschenkt. Wo es früher war? Keine Ahnung. Vielleicht vor einer Wohnung oder einem Büro? Jedenfalls fasziniert mich diese lakonische und in jedem Fall etwas seltsame Befehlston.

Was mir noch dazu einfällt?

„Das Handy, der wichtigste dieser Gegenstände, ist nichts anderes als ein neuer Körperteil, einer, den meine Eltern noch nicht hatten. Verlieren wir ihn, sind wir hilflos, als hätte man uns einen Teil des Gehirns amputiert. (Na ja, so schlimm ist es nicht, ein Smartphone ist ersetzbar, Gehirnzellen kaum.)

Unser Körper hat heute Teile, die man irgendwo vergessen kann. Das Handy eben. Man stelle sich vor, einer würde sagen: Mein linker großer Zeh ist weg, ich muss ihn gestern im Laufschuh gelassen haben.“

Aus Aua! Die Geschichte meines Körpers

Einmal, als es mir eine Zeitlang nicht gut ging, schenkte mir meine Frau diese alte Porzellantasse. Vorne steht „Sei glücklich“. Und tatsächlich, es funktioniert. Immer wenn ich diese Tasse in die Hand nehme, bin ich glücklich. Deshalb tue ich das jeden Tag mindestens einmal, übrigens ohne daraus zu trinken. Ich habe Angst, die Tasse könnte bei Benutzung Schaden nehmen, so dass es mit meinem Büroglück auf der Stelle für immer zu Ende wäre. Und wer weiß: Tränke ich aus der Tasse einen Kaffee oder Tee, vielleicht wäre das Glück, das ich so gewissermaßen als Flüssigkeit zu mir nähme, dann gar nicht mehr auszuhalten?

Ich weiß nicht mehr, woher ich dieses kleine Schwein habe, vermutlich habe ich es vor Jahrzehnten bei irgendeinem Trödler gekauft.

Ich mag Schweine, es sind sehr intelligente, gesellige Tiere, denen viel Unrecht geschieht in dieser Welt. Wobei ich kein Vegetarier bin, aber ein Gegner der Massentierhaltung in ihrer heute so weit verbreiteten Form. Aber wer wäre das nicht!? Schweine aus Holz isst jedoch keiner, und dieses hier ist aus Holz, geschnitzt aus einem Stück, nur das Ringelschwänzchen wurde nachträglich eingesetzt.

Ich nehme es fast jeden Tag einmal in die Hand und betrachte es. Es hat einen missmutigen Gesichtsausdruck und schaut ein wenig feindselig, aber es fasst sich gut an, rundlich und fest.

„Schweine sind uns nah und fern zugleich“, schreibt Thomas Macho in seinem äußerst lesenswerten, in der schönen Reihe Naturkunden bei Matthes & Seitz erschienenen Buch Schweine. „Wer eine Genealogie der Ambivalenz entwerfen wollte, braucht nur die Geschichte der Schweine studieren. Und in ihr den Widerspruch zwischen dem Überfluss des Imaginären, der Allegorien, Sprichworte, Bilder und Artefakte – und der zunehmenden Unsichtbarkeit der Schlachthöfe und Massentierhaltungspraktiken. Einer gesteigerten Sichtbarkeit entspricht eine außerordentliche Blindheit, ein vergessener und verdrängter Alltag der Grausamkeiten, zugleich aber auch eine diffuse Angst und Schuld …“

Vielleicht stand das einmal im Schaufenster eines Metzgers. Vielleicht auch nicht. Jetzt ist es jedenfalls bei mir. Und da bleibt es auch.

Das ist die Krone des kleinen Königs Dezember. Er hat sie bei mir gelassen, weil er eine kleinere brauchte. Er schrumpft ja immer weiter, und diese wurde ihm zu schwer. Ich bewahre sie sicher unter einem kleinen Glassturz auf, denn sie ist wirklich aus Gold. Rechts daneben sieht man eine Schachtel, die einmal jemand für mich gebastelt hat, dem das Buch gut gefallen hatte: vor allem die Geschichte, in der es um die Träume von Dezember geht, die er nämlich in solchen Schachteln aufbewahrt.

Sie steht immer auf meinem Schreibtisch, ganz in der Nähe der Krone. Und es rührt mich jedes Mal sehr, wenn ich sie sehe: dass die Geschichte des Königs Leute so sehr beschäftigt, dass sie so etwas basteln und es mir schenken.

„Was bewahrst du in diesen Schachteln auf?“, fragte ich.

„Meine Träume“, sagte der König Dezember.

„Deine Träume!?“, rief ich.

„Alle meine Träume“, sagte der König. „In jeder Schachtel ist ein Traum.“

„Aber wie träumst du deine Träume, wenn du sie in Schachteln hast?“, fragte ich.

„Abends, wenn ich schlafen gehe“, sagte der König, „nehme ich eine Schachtel aus dem Regal, stelle sie neben mein Bett und nehme den Deckel ab. Dann schlafe ich ein und träume. Und morgens, wenn ich aufgewacht bin, bleibe ich noch ein bisschen liegen und erinnere mich an die Nacht. Dann tue ich den Traum wieder in die Schachtel und stelle sie ins Regal zurück.“

Die Dose hat mir vor Jahren Peter Kaack geschenkt, weil ihm mein Buch Fußballgefühle so gefallen hatte. Peter war Verteidiger in der Meistermannschaft von Eintracht Braunschweig 1967 und einer der Helden meiner Kindheit. Oft frage ich mich, in welchem Zustand sich der Inhalt dieser Bierbüchse befinden mag. Aber es könnte sein, dass ich es nie erfahren werde.

Bücher, die ich gerade lese

Mascha Kaléko

Schon seit Längerem habe ich nämlich neben meinem Bett immer einen Band mit Lyrik liegen. Lies jeden Abend ein Gedicht!, so lautet das Gesetz, und leicht ist es einzuhalten.

Im Moment ganz oben auf dem Lyrik-Posten: Mascha Kaléko.

Ich besitze zwei Bände mit Gedichten von ihr, den einen schon länger, den anderen erst seit einigen Wochen. Der erste ist ein prachtvolles Buch, ausgestattet mit Zeichnungen des famosen Hans Ticha, der eine der schönsten Buchausgaben schuf, die ich überhaupt kenne, Karel Čapeks Der Krieg mit den Molchen, eine Science-Fiction-Satire aus dem Jahr 1936, in der FAZ einmal hoch gelobt als „eines der schönsten Bücher der deutschen Buchgeschichte“.

Der zweite ist im vergangenen Jahr herausgekommen, auf sehr gutem Papier und mit einem Leinen-Einband, dazu ein Vorwort von Daniel Kehlmann. Er beschreibt (und man kann das auch im Buch einigen quasi autobiographischen Prosa-Texten der Autorin selbst entnehmen), wie Mascha Kalékos Ruhm mit ihren zwischen Ironie und Traurigkeit changierenden Texten neben denen von Ringelnatz, Tucholsky, Kästner wuchs – bis sie 1938 mit Mann und Kind emigrieren musste, nach New York zunächst, später nach Jerusalem.

Sie war populär, ihre Gedichte leicht, klar, schnoddrig, voller Melancholie und großstädtischem Witz.

Aber nie konnte sie nach dem Krieg in das Glück ihrer Berliner Jahre zurückfinden, auch von der Literatur-Szene wurde sie mit Fleiß ignoriert. In seinem Nachruf auf sie schrieb Horst Krüger 1975 in der FAZ: „Natürlich gehört ein solches Leben: wie es aufbrach, kurze Zeit blühte, sich ducken mußte und dann über Jahrzehnte eigentümlich verrann in lauter freundlichen Verlegenheiten, zu den Spätfolgen des deutschen Faschismus. Es ist ein jüdisches Schicksal zu beklagen – was denn sonst?“

Seit einer ganzen Weile schon aber wird sie wieder gelesen, erscheinen Neuausgaben, ist sie präsent. Es wird nie so sein, wie es hätte sein können, das haben die Nazis auf dem Gewissen.

Aber wir können sie lesen, jeden Tag und jeden Abend.  

Auch ich bin ein „ein deutscher Dichter,

Bekannt im deutschen Land“,

Und nennt man die zweitbesten Namen,

So wird auch der meine genannt.

Auch meine Lieder, sie waren einst

Im Munde des Volkes lebendig.

Doch wurden das Lied und der Sänger verbannt.

– Warn beide nicht „bodenständig“.

Ich sang einst im preußischen Dichterwald,

Abteilung für Großstadtlerchen.

Es war einmal. – Ja, so beginnt

Wohl manches Kindermärchen.

Mascha Kaléko (Aus dem Gedicht: Deutschland, ein Kindermärchen, geschrieben auf einer Deutschlandreise im Heine-Jahr 1956)

Mascha Kaléko, Ich tat die Augen auf und sah das Helle. Gedichte und Prosa. dtv. 256 Seiten, 20 Euro.

Mascha Kaléko, Bewölkt, mit leichten Niederschlägen. Gesammelte Gedichte. Mit Zeichnungen von Hans Ticha. Büchergilde Gutenberg, 32 Euro.

Florian Klenk, Über Leben und Tod. In der Gerichtsmedizin, Zsolnay

Warum wird einer Gerichtsmediziner und Pathologe, also ein Arzt, der sich nicht mit Lebenden, sondern mit Toten beschäftigt, Tag für Tag?

Christian Reiter übt den Beruf seit 45 Jahren aus. Er ist der renommierteste österreichische Rechtsmediziner und hat die Gletschermumie Ötzi untersucht und die Opfer des Absturzes einer Lauda-Air-Maschine, war Sachverständiger in großen Mordprozessen und hat die Haare Beethovens auf der Suche nach dessen Todesursache ebenso untersucht wie die sterblichen Überreste von Mary Vetsera, Geliebte des Kronprinzen Rudolf und von ihm auf Schloss Mayerling 1889 erschossen, bevor er sich selbst das Leben nahm.

Reiter sagt, er habe nie ein heilender Arzt werden wollen. „Ich hatte Sorge, es nicht zu schaffen, mit Patienten über ihr Leid und ihre Angst und ihre Hoffnungslosigkeit zu sprechen.“

Deshalb: Tierarzt. Das war sein Kindheitstraum. Aber die Mutter verbot es ihm. Sie hatte beruflich viel mit Fleischbeschauern aus dem Schlachthof zu tun und beobachtet, dass die zu trinken begannen, weil sie das tägliche Gemetzel nicht ertrugen. Und wenn man draußen auf dem Land bei den Bauern arbeitete, heiße es nach jeder Kalbsgeburt: Dokta, a Schnapserl! Und no a Schnapserl!

Auch hier: Teufel Alkohol.

Das wollte die Mutter nicht, und der Sohn war folgsam, wie es scheint.

Also: Labormedizin? Da stellte er sich als Ferienpraktikant vor, aber just in dem Moment war die Stelle weg, bloß in der Pathologie wurde gerade ein Gehilfe gesucht. So landete er dort, für 45 Jahre, wie gesagt. Ungeheuer interessant! Denn der Pathologe muss alle Krankheiten kennen, aber auch die Spielarten des gewaltsamen Todes. Er müsse, so Reiter, „die Natur kennen, die Botanik, die Zoologie, die Abgründe des Menschlichen, die Kulinarik und technische Details.“

Kurz: Wer sich mit Toten befasst, der muss das Leben kennen wie kein Zweiter.

Das macht dieses Buch so interessant: Es ist eines über das ganze Leben, zu dem ja auch der Tod gehört, dessen Teil er ist, weil, wie Florian Klenk schreibt, auch die Verwesung „ein Mechanismus der Natur ist“. Sie ist Leben, das Leben der Fliegen und Maden nämlich zum Beispiel, auch ein Abbild und eine Folge des Lebens zuvor. Was hat einer gegessen? Wie ist eine zu Tode gekommen? Wie hat sie gelebt und was davon sieht man noch am Leichnam?

Klenk ist Chefredakteur des Wiener Wochenmagazins Falter, und er betreibt mit Reiter zusammen seit einer ganze Weile einen äußerst erfolgreichen Podcast namens Klenk+Reiter. Das Buch ist zugleich das Porträt eines umfassend gebildeten Mannes und einer Wissenschaft, die wie jede Wissenschaft äußerst präzise arbeitet, es ist geradezu ein Lehrstück über die Notwendigkeit dieser Genauigkeit, ohne die uns die Wahrheit oft verborgen bleiben würde (und vermutlich sehr oft auch bleibt).

Es ist auch ein Buch, das uns staunen lässt über diese Präzision, ein sehr lebendiges, gut zu lesendes Werk: über Fleisch-und Schmeißfliegen, den Geruch der Toten, über die Unbesiegbarkeit der Neugier und über die Frage, warum wir auch nach drei Monaten unter der Erde manchmal noch ganz rosa und faltenfrei aussehen können, ein Buch über unsere physische Natur und all das Ungeheure, das uns ausmacht.

Florian Klenk, Über Leben und Tod. In der Gerichtsmedizin, Zsolnay. 181 Seiten, 23 Euro

Christian Seiler, Alles wird gut. Rezepte und ihre Geschichten. Echtzeit Verlag

Christian Seiler kenne ich schon lange. Er ist Österreicher: Wiener, um genau zu sein. Er war mal Chefredakteur des profil und auch der Kulturzeitschrift DU, die, wie so vieles, auch nicht mehr das ist, was sie mal war.

Außerdem hat er verschiedene Biografien geschrieben, ich erwähne die von André Heller, Feuerkopf heißt sie und ist wunderbar zu lesen. Christian ist ein Autor mit großem Schwung und Elan, und wenn ich schlecht drauf bin, schnappe ich mir manchmal sein Buch Alles Gute: Die Welt als Speisekarte, und nach zwei Seiten geht es mir besser, nach dreien habe ich Hunger und spätestens nach vieren möchte ich ein Glas Wein. Seiler schreibt, wie soll ich sagen?, irgendwie mitreißend und, wenn es um Essen geht, appetitanregend. Ich glaube, wenn er über Schach schriebe, würde ich Schach spielen wollen, und wäre er Fachautor für Pferdewetten, hätte ich mich schon längst auf der Rennbahn ruiniert.

Aber Seiler schreibt vor allem über Essen, er hat entsprechende Kolumnen im Tagesanzeiger und seinem Magazin in der Schweiz, und in Alles Gute ging es seine Reisen in alle Welt und was er dort gegessen hat. Dabei ist davon auszugehen, dass unser Mann kein abgehobener Gastronomiekritiker ist. Er verkehrt durchaus in Sternelokalen, aber er verschmäht auch keine vietnamesische Garküche, ja, er aß schon in einer Lissaboner Bar gebackene Schweineohren und selbst vor Kängurufleisch verschloss er nicht den Mund. Ich erinnere mich an seinen Satz: „Ein Stück Schwarzbrot, frische Butter, etwas gereifter Gruyère, ein Glas Birnencidre: Kultiviertheit beginnt nicht dort, wo rechts unten die hohen Preise stehen.“ Das unterschreibe ich sofort, aber noch lieber setze ich mich mit an den Tisch.  

Jetzt entdeckte ich Alles wird gut. Rezepte und ihre Geschichten in meinem Lieblingsbuchladen und kaufte es natürlich sofort, obwohl es satte 48 Euro kostet, aber alles Gute hat seinen Preis, das gilt für Essen und auch für Bücher, und bei Seiler habe ich mich noch nie geirrt. In diesem Buch geht es um Blumenkohl polonaise und Wiener Schnitzel, um Spaghetti Cacio e Pepe und Kuchen aus Bitterorangen, Seiler erzählt wie, er kocht und wie er isst, er berichtet über die Geschichte von Gerichten und erzählt Geschichten über Gerichte. Ganz am Anfang behandelt er die Frage Warum überhaupt kochen? und landet dann bei einem so einfachen, aber dann doch wiederum nicht so einfachen Gericht wie dem Rührei, das man, so sein Vorschlag, doch einmal nach französischer Art im Wasserbad zubereiten könne.

Ich las das und glücklicherweise war Zeit für einen kleinen Imbiss, weshalb ich mein Büro verließ, nach Hause ging und zwei Eier mit Butter, einem Schuss Rahm und etwas Schnittlauch als Rührei zubereitete und mit großem Genuss verspeiste.

Ja, so ein Buch ist das! 

Christian Seiler, Alles wird gut. Rezepte und ihre Geschichten. Echtzeit Verlag, 480 Seiten, 48 Euro