Texte von mir

Aus dem Büro
  • Buddha, Hesse, Mann – und die Heiterkeit
    Nun ist das neue Buch erschienen und die Spannung, die mit so einem Termin immer verbunden ist, hat sich gelöst. Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der […]
  • Über die Heiterkeit in meinem Leben
    Vor zwei Wochen schon habe ich ein Paket bekommen mit den ersten Exemplaren von Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte.Von der […]
  • Die Wochen, nachdem ein Buch fertig geworden ist
    Vor ein paar Tagen haben wir alle Arbeiten an Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir mit dem Ernst des Lebens umgehen sollten beendet, also auch Lektorat, Faktencheck, Korrektur […]
  • Über künstliche Intelligenz, Krankheit und Humor
    Leser O. schickte aus Puchheim ein Foto, das er 2019 in Regensburg gemacht hat. Er fand (wie auch ich), das sei ein schöner Beitrag zu den momentanen Debatten. Michael Ruhe, der mir Woche […]
  • Verspätungen durch Lesen
    Wie alle Bahnfahrer bin auch ich sehr oft verspätet, das liegt meistens an der Bahn, an defekten Zügen, verpassten Anschlüssen, durch vorausfahrende Züge noch belegten Gleisen und kaputten Weichen. Einmal vor vielen Jahren […]
  • Pfettfropfen im Frühling
    In meiner Kolumne im Süddeutsche Zeitung Magazin habe ich kürzlich etwas über unseren steten Kampf mit der defekten Geschirrspülmaschine geschrieben und wie unser Leben sich zu einem einzigen Ringen mit dem immer wieder […]
  • Die Kindergrippe
    Leser N. schickte mir diesen Screenshot eines Inserats auf Immowelt. Ich postete das auf meiner Facebook-Seite im Rahmen einer kleinen Rubrik, die Neues aus Sprachland heißt, und schrieb dazu, meines Wissens stehe die Kindergrippe in diesem Frühjahr aber […]
  • Die Bettlerin
    Neulich abends hatte ich eine Besprechung samt Abendessen im Schumann’s, nach wie vor einer der Hauptschauplätze des Luxus und der Moden in München. Auf dem Heimweg durch die Stadt begegne ich vor einem der richtig […]

Mein Leben in Dingen

Einmal, als es mir eine Zeitlang nicht gut ging, schenkte mir meine Frau diese alte Porzellantasse. Vorne steht „Sei glücklich“. Und tatsächlich, es funktioniert. Immer wenn ich diese Tasse in die Hand nehme, bin ich glücklich. Deshalb tue ich das jeden Tag mindestens einmal, übrigens ohne daraus zu trinken. Ich habe Angst, die Tasse könnte bei Benutzung Schaden nehmen, so dass es mit meinem Büroglück auf der Stelle für immer zu Ende wäre. Und wer weiß: Tränke ich aus der Tasse einen Kaffee oder Tee, vielleicht wäre das Glück, das ich so gewissermaßen als Flüssigkeit zu mir nähme, dann gar nicht mehr auszuhalten?

Ich weiß nicht mehr, woher ich dieses kleine Schwein habe, vermutlich habe ich es vor Jahrzehnten bei irgendeinem Trödler gekauft.

Ich mag Schweine, es sind sehr intelligente, gesellige Tiere, denen viel Unrecht geschieht in dieser Welt. Wobei ich kein Vegetarier bin, aber ein Gegner der Massentierhaltung in ihrer heute so weit verbreiteten Form. Aber wer wäre das nicht!? Schweine aus Holz isst jedoch keiner, und dieses hier ist aus Holz, geschnitzt aus einem Stück, nur das Ringelschwänzchen wurde nachträglich eingesetzt.

Ich nehme es fast jeden Tag einmal in die Hand und betrachte es. Es hat einen missmutigen Gesichtsausdruck und schaut ein wenig feindselig, aber es fasst sich gut an, rundlich und fest.

„Schweine sind uns nah und fern zugleich“, schreibt Thomas Macho in seinem äußerst lesenswerten, in der schönen Reihe Naturkunden bei Matthes & Seitz erschienenen Buch Schweine. „Wer eine Genealogie der Ambivalenz entwerfen wollte, braucht nur die Geschichte der Schweine studieren. Und in ihr den Widerspruch zwischen dem Überfluss des Imaginären, der Allegorien, Sprichworte, Bilder und Artefakte – und der zunehmenden Unsichtbarkeit der Schlachthöfe und Massentierhaltungspraktiken. Einer gesteigerten Sichtbarkeit entspricht eine außerordentliche Blindheit, ein vergessener und verdrängter Alltag der Grausamkeiten, zugleich aber auch eine diffuse Angst und Schuld ...“

Vielleicht stand das einmal im Schaufenster eines Metzgers. Vielleicht auch nicht. Jetzt ist es jedenfalls bei mir. Und da bleibt es auch.

Das ist die Krone des kleinen Königs Dezember. Er hat sie bei mir gelassen, weil er eine kleinere brauchte. Er schrumpft ja immer weiter, und diese wurde ihm zu schwer. Ich bewahre sie sicher unter einem kleinen Glassturz auf, denn sie ist wirklich aus Gold. Rechts daneben sieht man eine Schachtel, die einmal jemand für mich gebastelt hat, dem das Buch gut gefallen hatte: vor allem die Geschichte, in der es um die Träume von Dezember geht, die er nämlich in solchen Schachteln aufbewahrt.

Sie steht immer auf meinem Schreibtisch, ganz in der Nähe der Krone. Und es rührt mich jedes Mal sehr, wenn ich sie sehe: dass die Geschichte des Königs Leute so sehr beschäftigt, dass sie so etwas basteln und es mir schenken.

„Was bewahrst du in diesen Schachteln auf?“, fragte ich.

„Meine Träume“, sagte der König Dezember.

„Deine Träume!?“, rief ich.

„Alle meine Träume“, sagte der König. „In jeder Schachtel ist ein Traum.“

„Aber wie träumst du deine Träume, wenn du sie in Schachteln hast?“, fragte ich.

„Abends, wenn ich schlafen gehe“, sagte der König, „nehme ich eine Schachtel aus dem Regal, stelle sie neben mein Bett und nehme den Deckel ab. Dann schlafe ich ein und träume. Und morgens, wenn ich aufgewacht bin, bleibe ich noch ein bisschen liegen und erinnere mich an die Nacht. Dann tue ich den Traum wieder in die Schachtel und stelle sie ins Regal zurück.“

Die Dose hat mir vor Jahren Peter Kaack geschenkt, weil ihm mein Buch Fußballgefühle so gefallen hatte. Peter war Verteidiger in der Meistermannschaft von Eintracht Braunschweig 1967 und einer der Helden meiner Kindheit. Oft frage ich mich, in welchem Zustand sich der Inhalt dieser Bierbüchse befinden mag. Aber es könnte sein, dass ich es nie erfahren werde.

Ich stelle die Zahnpasta immer auf den Deckel, wie man es ja auch vernünftigerweise machen sollte. Meine Frau legt sie immer hin. Irgendwann fand ich eine Lösung, die uns beiden gerecht wurde, und unsere Ehe hat bis heute gehalten.

In meinem Elternhaus wohnte ein Vertreter von Idee-Kaffee als Untermieter. Der hatte solche Schränkchen für seine Kunden. Als Kind saß ich oft davor und träumte von den Orten, die darauf verzeichnet sind: Timor, Celebes und Menado, von Arabien und Abessinien, auch Bahia, Minas Geraes und Sao Paulo. Ich liebte das Design und den Kaffeegeruch aus dem Lager von Vorräten, die der Vertreter im Keller untergebracht hatte. Und zweitens? Ein Mann wie ich braucht im Büro einen Behälter für Ideen, die er nicht sofort verwerten kann und aufheben muss. Die sind da alle drin.

Bücher, die ich gerade lese

Emmanuel Carrère, V13. Die Terroranschläge in Paris. Gerichtsreportage. Diogenes

Vielleicht muss man diesem Buch eine Triggerwarnung für empfindliche Gemüter voranschicken. Es ist nämlich an gewissen Stellen nicht leicht zu ertragen. Es geht um die Anschläge in Paris am Freitag, 13. November 2015 (vendredi 13, daher der Titel V13). In der Konzerthalle Bataclan, auf den Terrassen mehrerer Cafés und Restaurants und vor dem Stade de France (während des Spiels Frankreich-Deutschland) wüteten islamistische Terroristen. Sieben von ihnen sprengten sich in die Luft, 131 Menschen rissen sie in den Tod, fast 700 wurden verletzt und viele mehr schwerst traumatisiert. In V13 wird der gesamte Prozess vom September 2021 bis zum Juli 2022 geschildert - und das geht nicht ohne fürchterliche Details des Gemetzels insbesondere im Bataclan.

Das alles ist aber nicht nur auszuhalten, sondern als Lektüre dringlich zu empfehlen, weil Emmanuel Carrère mit seinem Buch ein Meisterwerk gelungen ist. Carrère ist ein in Frankreich und auch darüber hinaus sehr bekannter Schriftsteller und Filmemacher, vielmals preisgekrönt. Er begleitete den Prozess für den Nouvel Observateur und schrieb dann dieses Buch, das heißt, er tat zehn Monate lang beruflich nichts anderes als im Gerichtssaal zu sitzen und den Opfern und ihren Angehörigen, den Staatsanwälten, Nebenklägern und Verteidigern, den Zeugen, Polizisten und Angeklagten zuzuhören.

Ich würde diesem großartigen Werk eine geradezu reinigende Kraft zuschreiben. Das hat einerseits mit den prozessualen Prozeduren zu tun, den klaren und nüchternen Regeln, die sichtbar machen, was gesehen werden muss, es ordnen, klären und am Ende einem Urteil zuführen. Es kommt hier aber auch auf den Autor an, der sich an Spinozas großes Gebot hält: „nicht urteilen, nicht weinen, nicht toben, nur verstehen“.

So arbeitet Carrère, und das ist im höchsten Maße beeindruckend, zumal er ein unglaublich guter Autor und sein Text von Claudia Hamm hervorragend übersetzt ist. Ich habe mir vieles angestrichen in diesem Buch, eines möchte ich noch zitieren, die Sätze nämlich, die er nach dem Plädoyer der drei Staatsanwältinnen und Staatsanwälte notierte.

„Ich weiß nicht, ob dieser Charakterzug einen guten oder schlechten Richter aus mir machen würde, aber ich lasse mich leicht überzeugen. Ich schließe mich den Überlegungen von anderen leicht an, was einerseits eine Qualität ist - Unvoreingenommenheit -, andererseits eine Schwäche, die Gefahr, ein Fähnchen im Wind zu sein, das immer die Meinung dessen teilt, der das letzte Wort hat. Meine innere Überzeugung ist labil und unentschieden. Nachdem ich also zu Protokoll genommen habe, was mich an der Anklagerede überzeugt hat - so ziemlich alles -, nehme ich mir vor, mit wachem Blick zu beobachten, wie ich mich davon abbringen lassen werde.“

Und, halt, noch dieses auch, nur um zu zeigen, dass Verstehen am Ende nicht Urteilslosigkeit bedeutet. Denn dies schrieb er zum Ende der Verhandlung hin über einen Angeklagten, der überlebte, weil er seinen Sprengstoffgürtel nicht zündete.

„Bis zum Erbrechen hat man sich, ich auch, Fragen zu den Gemütszuständen von Salah Abdeslam gestellt. Hat ihn sein Sprengstoffgürtel im Stich gelassen? Hat er Angst bekommen? Hat er einen Anfall von Menschlichkeit gehabt? Sind seine Bitten um Entschuldigung aufrichtig? Aber was bedeutet schon seine Aufrichtigkeit? Was kümmern uns die Gemütszustände von Salah Abdeslam? Ein mickriges Mysterium: eine von Lügen umhüllte, abgrundtiefe Leere, mit der sich so eingehend beschäftigt zu haben man im Nachhinein ein wenig entsetzt ist.“

Abdeslam, so urteilten die Richter, wird bis zu seinem Tod im Gefängnis sitzen. (Gerade erst wurde er in Brüssel in einem weiteren Terrorprozess erneut zu lebenslänglicher Haft verurteilt.) 

Emmanuel Carrère, V13. Die Terroranschläge in Paris. Gerichtsreportage. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Matthes & Seitz Berlin, Diogenes, 25 Euro

Kent Haruf, Das Band, das uns hält. Diogenes

Kent Haruf habe ich spät entdeckt, durch einen Literaturtipp vor zwei, drei Jahren irgendwo, von Matthias Brandt, glaube ich. Er empfahl Unsere Seelen bei Nacht, das auch mit Robert Redford und Jane Fonda verfilmt wurde. Es war der Hammer, ich fraß den kleinen Roman in drei Tagen. Danach kam Ein Sohn der Stadt. Als ich den zugeklappt hatte, beschloss ich, nun alles von Haruf zu lesen. Das ist nicht so schwer, er hat nur sechs oder sieben Romane geschrieben, 2014 ist er gestorben, leider schon mit 71.

Und jetzt bin ich beim letzten angekommen, glaube ich jedenfalls.

Jetzt habe ich Das Band, das uns hält abgeschlossen.

Alle Bücher Harufs spielen in einer Kleinstadt in Colorado. Sie heißt Holt, und es gibt sie nur in Harufs Geschichten. Der Ort ist fiktiv, und das Personal seiner Bücher hat, soweit ich das sehe, manchmal Überschneidungen, manchmal nicht. Die Gemeinsamkeit aller Bücher ist diese kleine, unbedeutende, nichtssagende und doch eigenartige und schöne kleine Stadt irgendwo in der Weite der Great Plains – und vor allem das einfache, schwierige, manchmal schöne, fast immer scheiternde und doch hoffnungsvolle Leben der Leute dort.

Auch Das Band, das uns hält hat den großartigen Sog, der von allen Romanen Harufs ausgeht. Man will immer weiter und freut sich auf jede Stunde des Lesens. Hier geht es um das Leben der 80jährigen Edith Goodnough und um die Existenz der Menschen um sie herum, ihres fürchterlichen tyrannischen Vaters Roy zum Beispiel, den Bruder Lyman und um die Nachbarfamilie Roscoe, deren Sohn Sanders Roscoe der Erzähler ist. Sie alle leben auf einsamen Höfen ein paar Meilen von Holt entfernt. 

Über jede dieser Existenzen bricht, wie in alle Büchern des Autors, eine Tragödie herein, mit der die Leute fertigwerden müssen – und dieses Ringen schildert Haruf in seiner dichten, farbigen, unspektakulären, plastischen Sprache, der man nicht auskommt und selbstverständlich auch nicht auskommen will, warum denn? Jedes seiner Bücher entfaltet einen unwiderstehlichen Sog. Ich wollte schon nach wenigen Seiten nie mehr weg aus Holt, wollte nur noch diese Geschichten lesen, nichts sonst. Haruf konnte erzählen - oh, wie er das konnte! - voller Zartgefühl und Zuneigung für die Leute, voller Hoffnung trotz aller Desaster, den Blick immer auf die Würde jedes Einzelnen und den Gemeinsinn der Meisten gerichtet. Wer in dieser Zeit an den Umständen und den Menschen zu verzweifeln droht, muss Haruf lesen und zwar alles von ihm. 

Kent Haruf, Das Band, das uns hält, aus dem amerikanischen Englisch von pociao und Robert de Hollanda, Diogenes, 25 Euro

David Van Reybrouck, Oden. Insel

Ich reise dieser Tage nach Belgien, zuerst nach Gent, dann Brügge, dann Antwerpen, vielleicht  auch noch Brüssel. Mal sehen. Da wird wenig Zeit sein, stundenlang zu lesen, aber ein Buch wie Oden von David Van Reybrouck ist genau richtig: kurze, abwechslungsreiche Texte über die verschiedensten Themen.

Außerdem ist Reybrouck Belgier, geboren in Brügge, ein arrivierter Autor, Weltreisender, unglaublich vielseitig, Schriftsteller, Dramatiker, Journalist, Historiker. In diesem Buch sind Kolumnen vereint, die er für das niederländische Online-Magazin The Correspondent schrieb. Er nennt die Texte Oden, wobei man hier nicht an die äußere lyrische Form denken darf, die wir mit Oden verbinden , wenn wir Pindar im Kopf haben, Horaz oder später Klopstock und Hölderlin...

Oder vielleicht doch ein bisschen? Seine Texte sind keine Lyrik, aber sie haben dennoch etwas Lyrisches, sie haben das Schwärmende, Rühmende, das zu einer Ode immer gehört.

Reybrouck hat Oden an alles Mögliche geschrieben, an Freunde, Künstler, Politiker, Bekannte und Unbekannte, an David Bowie oder Kofi Annan, aber auch an Dinge, die Bahnhofsgaststätte, den Umkleideraum, schließlich an emotionale Zustände, das Zuhören, das Wiedersehen, die Eifersucht, die Nonchalance.

Fast jeden Tag lese ich ein bisschen in diesem Buch, immer so zwischendurch, ein oder zwei Oden, es sind ja kurze Texte, aber gedankenreich, empfindsam, voller Neugier und Überraschungen, großem Wissen und vieler Erlebnisse, spannender Assoziationen und biografischer Anklänge, geschrieben auf der ganzen Welt. (Es erinnert von daher übrigens ein bisschen an den Atlas eines ängstlichen Mannes von Christoph Ransmayr, eines meiner Lieblingsbücher seit langer Zeit.)

Man muss nicht nach Belgien fahren, um es zu lesen, das kann man überall, und man sollte es auch tun.

David Van Reybrouck, Oden, aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert, Insel, 20 €