Neulich fiel mir auf, dass ich in vielen Newslettern persönlich angeredet werde.
Sehr geehrter Herr Hacke, schreibt mir zum Beispiel seit langem ein gewisser Kurt Kister in seinem wöchentlichen Brief namens Deutscher Alltag, obwohl wir seit etwa vierzig Jahren Kollegen und gute Freunde sind.
Sehr geehrte(r) Antje Kunstmann, so meldet sich bei mir das Team der ESSER Gruppe, obwohl ich keine Ahnung habe, wer die Esser-Gruppe ist, aber egal, ich bin ja auch nicht Antje Kunstmann, wobei doch jeder wissen sollte, dass Antje ein weiblicher Vorname ist, also warum das (r)?
Hallo Axel, so nennt mich das SportScheck Team, das ich nicht kenne. Ciao Axel, das ist Splendido, der höchst interessante Rundbrief zum Thema italienische Küche. Hey Beauty, das ist Hair-Express, bei denen habe ich mal ein Sea-Salt-Spray für meine Haare gekauft. Hallo Herr Hacke, das ist die Firma Stihl, sie verkaufen Motorsägen und andere tolle Sachen, die ich brauche.
Nur ich rede hier niemanden an. Vielleicht wäre es technisch sogar möglich, hier jede und jeden persönlich anzusprechen? Ich habe das einfach vergessen, als ich mit diesem Brief angefangen habe, und jetzt finde ich es irgendwie nicht wichtig. Es führt ja auch, wie man sieht, manchmal zu Irrtümern.
Früher hätte man Liebe Leser geschrieben, aber das geht jetzt irgendwie nicht mehr. Bei einer Lesung habe ich mal immerzu von meinen Lesern gesprochen. Dann rief irgendwann eine Frau aus dem Publikum, ob ich eigentlich auch Leserinnen hätte. Da hätte ich nun mit einem Vortrag des Inhalts antworten können, das grammatische Geschlecht habe mit dem Sexus nichts zu tun, mit den Lesern seien immer auch die Leserinnen gemeint. Das hätte aber nichts genützt, weil sich die Dame im Publikum nun mal nicht gemeint fühlte. Also spreche ich seitdem immer von den Leserinnen und Lesern.
So verändert sich Sprache, langsam und unmerklich. Denn wenn man einmal damit angefangen hat, kann man schlecht zurück. Wenn ich jetzt noch nur Leser schreiben würde, lautete die Frage zu Recht, wo denn die Leserinnen seien, sie waren doch sonst immer da. Manchmal schreibe ich nur Leserinnen, da sollen sich mal die Leser mitgemeint fühlen.
Die meisten Menschen sind ja konservativ, was ihre Sprache angeht. Sie hängen am Vertrauten. Geht mir auch so. Andererseits bin ich der Meinung, dass Sprache lebendig sein sollte, dass sie sich jeden Tag verändert, dass ihr Gebrauch auch das Bewusstsein für die Probleme der Welt schärft.
Ist doch interessant, das alles.
Die Zauberworte heißen Neugier und Ausprobieren. Sechzehnjährige reden heute manchmal so, dass jedes vierte Wort englisch ist. Vielleicht ist das in dreißig Jahren normal. The Times They Are a-Changin‘. Meine heute neunzehnjährige Tochter spricht fluently Englisch, was ich großartig finde, und wenn sie mit mir redet, ist jedes vierte Wort englisch, was mich bisweilen irritiert. Neulich benutzte sie das Wort uncanny, das ich nicht kannte. Ich fragte sie, was das bedeute.
Ihre Antwort lautete: creepy.
Das kannte ich wenigstens, es heißt unheimlich.
Aber man lässt sich natürlich ungern was vorschreiben, das ist vielleicht das größte Problem an der Sache: dass manche so im Gestus des Besserwissens auftreten, selbstgerecht auch. Man (nein, frau schreibe ich nicht) muss die Leute schon überzeugen, finde ich.
In einem Interview fragte man mich, wie ich zum Gendern stünde. Meine Antwort war: entspannt kritisch. Warum sich so viele Menschen darüber aufregten?, lautete die nächste Frage. Weil, so meine Vermutung, Sprache den Menschen nun mal so nahe sei. Und weil man damit ja irgendwie umgehen muss, entweder man macht es oder man macht es nicht, dazwischen ist wenig. Es ist also eine Entscheidung verlangt. Und weil es etwas mit Kontrolle zu tun hat. Menschen versuchen ja auch, mit dem Gendern Kontrolle über die Sprache zu gewinnen, andere möchten dieser Kontrolle entgehen. Und man hat diese Kontrolle dann ein wenig. Das ist in Zeiten sehr wichtig, in denen viele Menschen das Gefühl haben, ihnen entgleite diese Kontrolle über das Leben und die Welt.
Kontrollverlust macht Angst, und Angst kann aggressiv machen.
Was ich ablehne, das sind dämliche und ja, auch respektlose Bemerkungen von Frühvergreisten wie Friedrich Merz oder Thomas Gottschalk, à la man müsse jetzt wohl bald sagen: „Kannst du mir mal die Salzstreuerin reichen?“ Was ich auch ablehne, sind Sternchen oder Binnen-Is oder Glottisschläge, also die Genderpausen. Wobei ich glaube, dass die sich am Ende durchsetzen werden, meine Tochter benutzt sie ganz selbstverständlich.
Ist auch nicht schwer.
Ich warte das ab.
Seit Jahren bekomme ich den Newsletter des Residenztheaters in München, das ich regelmäßig und gerne besuche. Vor drei Jahren habe ich in einer Kolumne erwähnt, ich fände es fürs Theater, das doch auf sprechbare Sprache achten müsste, nicht angemessen, dass der Newsletterbezieher und die Newsletterbezieherin mit Liebe*r Newsletterleser*in angeredet würden. Irgendwann gleich danach lautete die Anrede dann plötzlich Liebe Newsletterleser*innen, das war schon besser.
Neuerdings heißt es Liebe Resi-Interessierte. Das Resi ist ja ein Staatstheater, also eine Behörde, und deshalb gilt auch hier seit dem 1.April das bayerische Genderverbot, vermute ich.
Ganz früher war es mal Liebes Publikum.
Leben wir, liebe Leserinnen, nicht in aufregenden Zeiten?