Meine wöchentliche Kolumne im Süddeutsche Zeitung Magazin schreibe ich seit 1997, das sind fast 27 Jahre. Sie hieß zuerst Das Beste aus meinem Leben, seit 2008 nennen wir sie Das Beste aus aller Welt.

Schon vorher habe ich – aber nicht wöchentlich – Kolumnen in diesem Magazin geschrieben und fünf Jahre lang gleichzeitig (bis es selbst mir zu viel wurde) eine wöchentliche Kolumne in der Sonntagsausgabe des Tagesspiegels in Berlin. Bedenkt man, dass ich in den Jahren von 1985 bis 2000 sehr intensiv am Streiflicht der Süddeutschen Zeitung mitgearbeitet habe, das ja eine tägliche Kolumne ist und seit 1946 existiert, bedenkt man weiter, dass ich 68 Jahre alt bin, habe ich in mehr als zwei Dritteln meines Lebens Kolumnen verfasst.

Ich habe also länger Kolumnen geschrieben, als ich nicht Kolumnen geschrieben habe.

Als im März 2015 Das kolumnistische Manifest erschien, hatte ich genau 1.001 Kolumnen veröffentlicht. Mehr als 200 von ihnen finden sich im Buch. Jetzt sind es dann also fast 1.500.

Ist das nicht ein irrsinniger Stress?, werde ich des Öfteren gefragt.

Ja, sage ich.

Am Anfang habe ich nach dem Aufstehen (nachmittags gegen 15 Uhr, das ist normal bei Schriftstellern) und einem reichhaltigen Aspirin-Frühstück drei Stunden lang abwechselnd warm und kalt duschen müssen, bis ich endlich eine Idee hatte, habe dann zu einer üppigen Mahlzeit eine Flasche Rotwein getrunken, gegen 21 Uhr mit der Arbeit begonnen, dabei ein Fläschlein Arbeitswhisky verzehrt, schließlich in einem meiner Stammlokale das Ergebnis mit den engsten 27 Freunden gefeiert.

Nein, Scherz jetzt. Noch mal.

Ist das nicht ein irrsinniger Stress?, werde ich des Öfteren gefragt.

Nein, sage ich.

Obwohl: früher schon.

Das Verfassen eines Streiflichts innerhalb weniger Stunden, immer im Wissen, dass eine ganze Tageszeitung ohne diesen Text nicht erscheinen kann – das war schon sehr sportlich. Aber ich wollte es schaffen und habe es auch immer geschafft, natürlich. Einmal habe ich bis morgens um fünf mit Wolfgang Joop, den ich für die Zeitung porträtieren sollte, in der Paris Bar in Berlin, ähem, recherchiert, bin dann voll des Weines, den ich bei der Arbeit hatte trinken müssen, ins erste Flugzeug nach München gestiegen und darauf in die Redaktion der Zeitung gefahren. Dort habe ich ein Streiflicht geschrieben, und es war nicht mal mein schlechtestes.

Allerdings erinnere ich mich nicht mehr an das Thema.

Lange vorbei. Heute meditiere ich morgens um sechs zwanzig Minuten, treibe dann eine Stunde Sport, dusche habeck (d.h. kurz) warm, dann lange kalt, frühstücke und sitze gegen acht am Schreibtisch.

Echt.

Das Kolumnenschreiben ist mir unterdessen zur Gewohnheit geworden. Ich weiß gar nicht mehr, wie das Leben ohne Kolumne ist, es ist einfach zu lange her. Ich äußere mich quasi gewohnheitsmäßig in dieser Form schriftlich, das kann man gar nicht mehr weglassen. Ich würde dann vielleicht in mich zusammenfallen wie eine Lunge, die man dem Brustkorb entnimmt, wo sie dort durch Unterdruck in Form gehalten wurde und dann zusammenfällt.

Ohne Kolumne wäre ich nichts als ein leer herumliegender grauer Sack.

Wahrscheinlich werde ich noch aus dem Sarg heraus einen letzten Text senden. Oder einen vorletzten.

Ich habe geschrieben, auch als ich krank war und nachdem mich schwere Schicksalsschläge ereilt hatten. Die Kolumne hält mich am Leben, sie ist die Krücke, an der ich durchs Leben gehe. Wobei: Kolumne kommt von columna, die Säule, die Stütze. Also: Es handelt sich um die Säule, die mein Lebensgebäude stützt.

Na gut, seit einer Weile haben wir vier auf Vorrat geschriebene Reservetexte, die wir auch schon mal gebraucht haben. Früher ist es ohne gegangen, seltsam eigentlich.

Als Michael Ebert, zusammen mit Timm Klotzek Chefredakteur des SZ-Magazins, vor langer Zeit sein Amt antrat, hatten wir die Reserve noch nicht. Ich arbeitete ohne Netz und doppelten Boden.

Wo denn die Reservetexte seien, fragte Michael. Wie man da rankomme, im Notfall.

Es gibt keine, sagte ich.

Das geht doch nicht, sagte er.

Haben wir noch nie gebraucht.

So was Ähnliches sagen die Betreiber von Atomkraftwerken auch immer, sagte er.

Das hat mich überzeugt. Ich war ja damals so eine Art Atomkraftwerk und musste mit größtmöglicher Sicherheit betrieben werden. Inzwischen habe ich mich aber auf regenerierbare Energien umgestellt. Wind, Sonne und Kaffee. Man fühlt sich besser.

Die Kolumne erscheint jeden Freitag, wie das Magazin auch, ohne Magazin geht‘s ja nicht, wieso auch? Ich schreibe sie mittwochs. Das geht so, die Produktion also: Montags telefonieren Johnny Waechter, der beste Redakteur der Welt, und ich. Wir tauschen unsere Ideen aus. Manchmal haben wir auch keine Ideen, dann tauschen wir nichts aus, sondern reden nur so herum. Es geht hin und her und ping und pong. Ich bin keiner, der gern lange allein herumgrübelt, mir kommen die Ideen oft beim Quatschen, und das kann ich mit Johnny sehr gut. Bedenkt man, dass wir seit beinahe zwanzig Jahren (vorher war Susanne Schneider meine Redakteurin, ist es bisweilen heute noch. Wie schön war auch das und ist es noch!) ungefähr fünf oder sechs Mal pro Woche telefonieren, habe ich mit ihm wahrscheinlich schon mehr telefoniert als früher mit meiner Mutter. Im Grunde ist er sogar wie eine Mutter zu mir. Jedenfalls am Telefon.

Übrigens bestimmen immer wir beiden das Thema. Das nur für jene Leute, die immer denken, man bekommt von der Chefredaktion oder den Verlegern gesagt, was man zu schreiben habe. Die Chefredaktion treffe ich einmal im Jahr zum Mittagessen, es sind extrem angenehme und liebe Kollegen.

Die Verleger kenne ich nicht.

Dienstags müssen wir dann ein Thema haben, das ist Gesetz. Ich möchte nicht morgens ohne Thema ins Büro gehen, das habe ich früher gemacht, es ist mir zu anstrengend. Manchmal habe ich mittwochs aber trotzdem kein Thema, weil wir uns nicht ans Gesetz gehalten haben. Dann stehe ich sehr früh auf, sage zu meiner Frau, ich wisse noch nicht, worüber ich schreiben solle (sie weiß dann, dass es ERNST ist, sehr ERNST), und sitze schon um 7 Uhr am Schreibtisch.

Etwa um 12 gebe ich meinen Text ab. Immer. Manchmal um 12.30 Uhr. Nie später.

Dirk Schmidt, der seit 1997 die Kolumne illustriert, auch die Bilder zu meinen Büchern Das kolumnistische Manifest sowie Oberst von Huhn bittet zu Tisch lieferte und zusammen mit seiner Mutter Barbara einige wunderschöne Kinderbücher gemacht hat, Dirk Schmidt also muss dann noch seine Zeichnung machen. Dazu braucht er auch etwas Zeit. Hier in diesem Brief zeigen wir, wie das geht, von seinem ersten Entwurf bis zur fertigen Kolumne, die in diesem Fall am Freitag vor einer Woche erschienen ist. Ich liebe seinen Strich. Er ist die absolute Idealbesetzung. Übrigens sehe ich seine Zeichnung immer erst im fertigen Magazin, nie vorher.

Hätten Sie auch nicht gedacht, was?

In diesem Fall ging es um Erdermüdung, es ist die Kolumne vom 15. März. Johnny Waechter hatte den Begriff in einem Interview mit Ajay Singh Chaudhary entdeckt, dem Direktor des Brooklyn Institute for Social Research. Der hat ein Buch mit dem Titel The Exhausted of the Earth geschrieben, und wir hatten sein Interview so verstanden, als stelle er die These auf, die Erde sei in den 4,5 Milliarden Jahren ihrer Existenz ein wenig müde geworden und unser aller Müdigkeit hänge sozusagen mit der Müdigkeit des Planeten zusammen.

Nach genauerer Lektüre stellte Johnny dann allerdings fest, dass Chaudhary die These so gar nicht aufgestellt hatte. Da war es aber schon Dienstagnachmittag, und ich antwortete, dass ich die These dann eben selbst aufstellen werde, das könne mir keiner verbieten. So habe ich es dann gemacht.

Am Schluss der Kolumne schrieb ich:

Ach, Ihr welken Kletten da draußen, Ihr seid nicht schuld an Eurer Müdigkeit. Es ist die Welt, die Euch ermattet, die allgemeine Erdermüdung. Das ist tröstlich, oder? Aber jetzt hört mir zu! Ich habe nun so oft die Wörter müde, erschöpft, schlapp, schlaff hingeschrieben, dass ich sie satthabe. Diese Wörter. Ich bin der müden Wörter müde. Ich bin erschöpft von all der Erschöpfung.

Wacht auf, Erschlaffte dieser Erde!

Ich zitiere die Lutherbibel: „Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre, und wenn's köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon.“ Wollt Ihr die Zeit mit Beschreibungen Eurer Erschöpftheit verbringen?

Raus jetzt an die frische Luft!

Echt jetzt, ich meine, so geht’s doch nicht.

Auf diese Zeilen bezieht sich Dirk Schmidts im Newsletter 39 / 2024 abgebildete Illustration, die hier im Internet nicht abgebildet werden kann.

Wenn Johnny Waechter den Text gelesen hat, redigiert er ihn. Er beseitigt also meine Fehler und findet heraus, ob ich Quatsch geschrieben habe. Gleichzeitig bekommt die Schlussredaktion die Kolumne. Sie prüft alle im Text vorkommenden Fakten auf ihre Richtigkeit hin. Hätte ich geschrieben, die Erde sei erst 5.000 Jahre alt, würden sie das herausfinden, bzw. sowieso schon wissen und korrigieren. Ich bin kaum jemandem auf der Welt dankbarer als den Leuten dort. Sie wissen eigentlich alles, was es auf der Welt zu wissen gibt, eher mehr.

Dann lesen den Text noch der Textchef und die Chefredaktion. Ganz ohne Aufsicht kann man mich nicht lassen.

Und dann erscheint er. Hier können Sie den Text lesen, den Dirk Schmidt illustriert hat, und hier die Kolumne vom Karfreitag bzw. Gründonnerstag. Manchmal beschweren sich übrigens Menschen, dass sie die Zeitung abonnieren müssten, um die Kolumne lesen zu können. Ich sage dann, sie sollten sich einfach vorstellen, sie abonnierten die Kolumne und bekämen die beste Zeitung Deutschlands gratis dazu. Ein besseres Geschäft gebe es doch gar nicht.

Das sehen die Menschen eigentlich immer ein.

Wenn die Kolumne erschienen ist, gibt es das sogenannte Wochenende.

Danach ist wieder Montag.

PS: Am Ende der Kolumne erscheint immer ein kleiner, meistens lustiger Kasten über den Autor und den Text. Wer den eigentlich schreibe, werde ich immer gefragt. Ich antworte, meistens blödelten Johnny Waechter und ich zehn Minuten herum, dann hätten wir eine Idee oder auch nicht. Wenn nicht, ziehen wir uns zu Beratungen mit unserem jeweiligen Selbst zurück. Dann telefonieren wir wieder. Dann haben wir eine Idee. Dann sagt Johnny Waechter, er schreibe die Idee mal auf und schicke mir den Text. Dann schickt er ihn mir. Dann schreibe ich zurück, wie super der Text sei und bedanke mich. Dann erscheint der Text.