Vor ein paar Tagen hatte ich in der Post das allererste Druckexemplar von Aua! Die Geschichte meines Körpers, es war einer der schönsten Momente des Jahres. Das Buch kommt am 13. September in den Handel, jetzt bewegt es sich langsam von der Druckerei aus dorthin, also in den Buchhandel, meine ich. Der Erscheinungstermin wurde übrigens um vier Tage vorgezogen, weil am 12. September in der ZEIT ein größerer Text von mir über das Thema des Buches erscheint. Und den Aufsatz schreibe ich gerade.
Für alle, die dieses Thema des neuen Buches jetzt schon besser verstehen wollen, hier superweltexklusiv ein Auszug aus der Vorbemerkung.
Ich betrachte ein Fotoalbum aus alten Zeiten.
Da liegt ein Baby mit vielen dunklen Haaren auf einem hellen Fell und schaut mit aufmerksam geöffneten Augen den Fotografen an.
Da sitzt ein Kleiner mit langen Locken in einer eisernen Wanne und hält ein Spielzeug in der Hand.
Da läuft ein zweieinhalbjähriges Kind unsicher und nur mit einem Hemdchen bekleidet über einen Rasen. Man sieht seinen Pillermann, so wurde in den 50erJahren das Geschlechtsteil von Buben genannt, jedenfalls in unserer Familie. Wir deklinieren: der Pillermann, des Pillermanns, dem Pillermann, den Pillermann.
Those were the days, my friend
We thought they’d never end.
Der Kleine bin ich.
Der Kleine war ich.
Ich bin jetzt 68 Jahre alt. 1,82 Meter groß, vor vierzig Jahren waren es noch 1,84 Meter. Ich bin geschrumpft, das ist normal, die Bandscheiben werden dünner, wenn man altert. Ich wiege 86 Kilogramm. 84 wären mir lieber, vielleicht schaffe ich es noch, aber ich mache mich nicht verrückt. Der Body-Mass-Index-Rechner der Techniker Krankenkasse spuckt die Zahl 26,0 aus und sagt: „Sie wiegen etwas zu viel.“ Ich sollte maximal 82,8 Kilogramm wiegen.
Unmöglich. So wenig habe ich noch nie gewogen. Oder vielleicht als Jugendlicher.
Lange dunkle Locken habe ich nicht mehr, aber auch keine Glatze. Unten ohne laufe ich schon lange nicht mehr über Rasenflächen, ich bin ja nicht verrückt. Zum Pillermann sagen wir jetzt Penis. Oder Schwanz. Dazu später mehr.
Was ich sagen wollte: Mich fasziniert auf naive Art die Entwicklung meines Körpers, sein Wachsen und Sichausdehnen, dann wieder sein Schrumpfen, seine Kraft und die langsame Schwächung, der stetige Kampf dagegen. Seine Geschichte. Dass ich von einem kleinen Menschen zu einem kraftvollen Kerl werden konnte, nie einem großen Athleten, aber doch zu einem, dem sein Körper nicht in erster Linie Schwierigkeiten machte. Sondern große Freude.
Manche Menschen schreiben irgendwann ihre Memoiren, sie berichten von ihren geistigen Leistungen und ihrem Schaffen. Warum verfasst niemand eine Geschichte seines Körpers, berichtet von den Narben in seiner Haut und den damit verbundenen Ereignissen? Erzählt von den Schmerzen, den ausgefallenen Zähnen, den Beulen und Flecken, von Haarverlust und Knorpelschwund. Aber auch: von den Triumphen seiner Muskeln und den Möglichkeiten seiner Lunge. Vom Alltag seines Herzens. Meinetwegen auch von den Mühen seiner Leber. Und davon, wie sich seelische Lasten in körperliche Probleme verwandeln konnten.
Das Kind auf dem Fell, der Typ hier am Schreibtisch, eines Tages der Leichnam im Sarg – alles ich.
Wissen Sie, was mich beschäftigt?
Ich habe mein ganzes Leben mit diesem Körper verbracht. Ohne ihn ginge es ja nicht. Und dennoch weiß ich erstaunlich wenig über ihn. Fragte mich jemand, wo meine Leber sitzt, ich müsste raten. Hätte ich die Funktion meiner Galle zu erklären, ich könnte es nicht. Sollte ich etwas über den Grund sagen, aus dem meine Finger eines Tages aufgehört haben zu wachsen – ich hätte keinen Schimmer.
Robert Gernhardt schrieb in seinem Gedicht Das Dunkel:
Ob im Mann, ob im Weib,
Dunkel herrscht in jedem Leib.
Das wirft ein Licht auf die Tatsache, dass manche von uns mehr über den Weltraum oder neueste Entwicklungen in der Fußball-Nationalmannschaft wissen als über das Innere des eigenen Körpers.
Wir leben in und mit etwas zum großen Teil Unbekanntem, und das, obwohl wir von nichts anderem so abhängig sind und manche von uns ihre Körper mit Leidenschaft modellieren, kleiden, tätowieren, ernähren und in manchen Fällen und zu gewissen Zeiten: zeigen.
Während wiederum andere ihre Leiber vernachlässigen, als hätten sie nichts mit ihnen zu tun.
Ist es nicht übrigens das, was uns seinerzeit an Gunther von Hagens Körperwelten-Ausstellung so fasziniert hat: dass man hier von außen das Innere von Körpern sehen konnte? Also in die Menschen hinein blickte, ins Dunkel fremder Leiber?
Genau dieses Unbekannte jedenfalls spiegelt sich in den Erlebnissen des Verfassers, der einerseits nie eine Vorsorgeuntersuchung versäumt, andererseits trotzdem nicht wirklich erklären kann, woher genau seine wiederkehrenden Schmerzen im linken Unterkörper etwa auf der Höhe des Beckenrandes kommen. Irgendwas mit den Muskeln dort, Hüftbeuger heißt die Muskelgruppe und ist stressempfindlich, seltsam. Alle Spezialisten haben versichert, es sei nichts Bedrohliches.
Andererseits: Weiß man’s?
Trifft man nicht jeden zweiten Tag jemanden, der vom schlimmen Schicksal eines anderen erzählt, von einem, der es mit irrenden Ärzten zu tun gehabt hatte?
Mein Onkel Wolfgang, der ein einfacher Mann war und dem im frühen Alter nach und nach ein Organ nach dem anderen den Dienst zu versagen begann, antwortete jedenfalls auf die Frage, welche Krankheit er eigentlich habe, stets nur: „Das habe ich auch nicht so richtig verstanden.“
Wir wissen viel, wir denken über alles Mögliche nach, über den Körper jedoch oft erst im Notfall. Dabei ist er ungeheuer interessant.