Am 17. September erscheint das neue Buch, es hat Kapitel über 15 Körperteile und meine persönliche Geschichte mit ihnen: Haut, Gedächtnis, Knochen, Ohr, Zeigefinger, Zähne, Bauch, Darm, Lunge, Knie, Nase, Penis, Fuß, Gehirn und Herz. Der britische Zeichner Nishant Choksi hat es illustriert.
Hier ist eine kleine Probe, der Anfang des Kapitels über meine Zähne.
Mir wurde ein Zahn gezogen, der Backenzahn links unten ganz hinten. Dreisieben nennt ihn mein Freund, der Zahnarzt, und sagt, er sei nicht mehr zu retten gewesen. Er spricht von ihm wie ein Tierarzt von einem alten Hund, den man von seinen Leiden erlösen musste, weil ihm Gelenkarthrose das Leben zur Hölle machte.
Der Zahn ist fort. Ich spüre an seiner Stelle einen Krater. Im Mund kommt einem vieles größer vor, als es in Wahrheit ist. So befindet sich, wo einst der Zahn eingewachsen war, eine Art Caldera. Die werde zuwachsen, hat der Kieferchirurg versichert. Dann bekomme ich ein Implantat, einen künstlichen Zahn.
Zwei Implantate habe ich schon, rechts unten hinten. Dreisieben ist nicht der erste Zahn, der mir gezogen wurde. Ein weiterer Backenzahn wurde vor anderthalb Jahren entfernt, da fehlt das Implantat noch, Zeit wird es.
Auch hatte ich vier Weisheitszähne, alle wurden extrahiert. Lange her. Zwei wuchsen von unten schräg gegen andere Zähne, wenn ich mich recht entsinne. Beschwerden machten sie, als ich Ende 20 war. Sie heißen Weisheitszähne, weil sie oft erst in einem Alter in Erscheinung treten, in dem Menschen einst als alt galten und als weise.
Die Achter (Zahnmediziner nennen sie so, weil sie jeweils die achten Zähne sind, von vorne aus gezählt) stammen aus einer Zeit, als die Menschen größere Gebisse und damit größere Kiefer hatten. Die Kiefer sind geschrumpft, die Zähne geblieben. Mir aber nicht.
Wenn ich bedenke, dass mir schon acht Zähne gezogen wurden, und wenn ich mich weiter erinnere, dass ich zwanzig Milchzähne hatte, dann sind meinem Mund schon 28 Zähne entfallen oder entnommen worden.
Aber sie sind alle wie vom Erdboden verschwunden! Auch die Milchzähne. Hat meine Mutter sie mit ins Grab genommen? Haben wir sie nach ihrem Tod beim Aufräumen der Wohnung entsorgt? Haben meine Brüder sie an sich genommen und mich um mein Dentalerbe betrogen?
Ich habe keine Erinnerung. Auch nicht an die erwachsenen Zähne.
Der Kieferchirurg kann sie nicht weggeworfen haben. Er hat mir den jüngst gezogenen Zahn mit der Bemerkung überreicht, es handele sich um mein Eigentum. So wird es auch damals gewesen sein, bei den anderen Zähnen.
Übrigens handelt es sich wirklich um ein Trumm von Zahn, ein imposantes Gebilde, so eindrucksvoll, dass ich es mit einer Zahnbürste reinige und in Desinfektionsflüssigkeit lege. Er ist 2,1 Zentimeter lang – und da ist die Krone, die er trug, nicht dabei. Ein Königszahn. Er hat gewisse nicht entfernbare Gebrauchsspuren, gelbliche Verfärbungen, eine weiße Füllung, auch zwei glänzende Stellen, dazu Rillen und Vertiefungen.
Ich hab‘ gelebt, mein Freund!, sagt sein Äußeres. Ich musste mich durchbeißen.
Mir fällt ein, wie Karl May den berühmten Jäger Old Firehand beschrieben hat, eine Stelle aus Der Schatz im Silbersee.
Um seinen Hals hing eine lange Kette, welche aus den Zähnen des grauen Bären bestand, und an ihr die Friedenspfeife mit einem meisterhaft geschnittenen Kopfe aus dem heiligen Thone. Sämtliche Nähte des Rockes waren mit Grislykrallen verbrämt, und da ein Mann wie Old Firehand sicherlich nicht fremde Beute trug, so konnte man aus diesem Schmucke und der Pfeifenkette ersehen, wie viele dieser furchtbaren Tiere seiner sichern Kugel und seiner starken Faust zum Opfer gefallen waren.
Wäre es nicht schön, ich könnte um meinen Hals eine Kette aus eigenen Zähnen trage, dazu vielleicht andere, meinem Körper entfernte Teile, die Vorhaut und den Blinddarm, dazu Teile des linken Innenmeniskus? Bei manchen Zeitgenossen könnte man eine alte Hüfte dazutun, ein Knie oder beides. Man wäre komplett, nicht wahr? Ganzheitlich. Hätte seine Sachen beieinander. Trüge Insignien des Körperbewusstseins um den Hals.
Ein Mementomori, Symbol der eigenen Vergänglichkeit.
Jedenfalls habe ich für meinen Dreisiebener eine mehr als vierzig Zentimeter hohe alte Glaskuppel gekauft und ihn auf rot leuchtenden Filz gebettet, eine Selbstmusealisierung, ein Stillleben, nature morte. Ich kann mir vorstellen, dass es Leute gibt, die mich für einen Kauz halten deswegen.
Mir egal.
Meine Großmutter legte jeden Abend ihr komplettes Gebiss in ein Kukident-Glas, wenn sie schlafen ging, und übernachtete ich bei ihr, lachten mich ihre Zähne aus dem Wasser heraus an. Wohingegen daheim das Glasauge meines Vaters mich beim Zähneputzen anstarrte. Es schwamm in Borwasser, während der Vater schlief, der sein richtiges Auge im Krieg verloren hatte.