Im Brief des vergangenen Monats hatte ich von der großen Freiheit des Sommers 2022 geschwärmt, davon, dass wir nach dem Abitur der jüngsten Tochter zum ersten Mal seit Jahrzehnten nicht mehr an die Schulferien gebunden sind und dass wir uns – paradoxerweise – in diese Riesenfreiheit stürzen wollten wie früher in die anfangs immer so endlos erscheinenden groooooßen Sommerferien.

Wir fuhren also nach Italien. Wir besuchten alte Freunde am Lago Maggiore. Wir reisten weiter in unser Haus für viele Sommer.

Es war dann dort erst mal, wie es immer gewesen ist und wie ich es meinem Buch geschildert habe: Ich traf zum Beispiel Pietro, der mir von seinem gerade überstandenen Herzinfarkt erzählte, und l’altro Pietro, den anderen Pietro, der mir, ohne sich mit langen Begrüßungsformalitäten aufzuhalten, von seiner für den nächsten Tag geplanten Darmspiegelung erzählte. An eben jedem nächsten Tag kam ich an seiner winzigen Wohnung vorbei, vor der bereits ein paar Nachbarn standen. Sie erkundigten sich wie ich nach dem Zustand des frisch Koloskopierten. Seine Frau, die im Eingang stand, verkündete immer wieder das Bulletin: alles kein Drama, alles in Ordnung, nur ein Polyp, der entfernt worden sei. Heute Abend gebe es Spaghetti alla bottargha, sein Leibgericht.

Es war wie immer, und es war schön.

Aber nach drei Tagen bekamen meine Frau und ich Corona, abbiamo preso il Covid, wie die Italiener sagen, wir haben den Covid genommen, ein Umstand, dem ich gerade kürzlich meine Kolumne im Süddeutsche Zeitung Magazin gewidmet habe.

Ich lag einige Tage lang müde auf dem Bett, las Don Winslows City on Fire und Annie Ernaux‘ Die Jahre, auch Klaus Manns großartige Autobiografie Der Wendepunkt. Ich dachte darüber nach, dass dies für mich einerseits der wohl seit langem am heißesten ersehnte Urlaub überhaupt gewesen war, und dass es andererseits für einen selbstständigen Autor vielleicht besser ist, im Urlaub krank zu sein als während der Arbeitszeit.

Jedenfalls lagen wir zwölf Tage matt im Torre herum und waren gerade zur Abreise wieder halbwegs auf den Beinen.

Aber nun, wieder in München: große Freiheit!

Ich überlege, was mein nächstes Buch sein könnte. Über dessen Inhalt jetzt hier kein Wort, schon deswegen nicht, weil ich selbst noch keinen rechten Schimmer habe, was drinstehen wird. Als ich vor 22 Jahren meine Festanstellung bei der Süddeutschen Zeitung kündigte, fragte man mich nach dem Grund. Ich sagte, ich wollte einen Roman schreiben – ein ganz und gar unausgegorenes Vorhaben. Meine entsprechende Auskunft hatte noch dazu den Nachteil, dass ich jahrelang immer wieder nach diesem Roman gefragt wurde.

Wo der denn bleibe.

Ja, weiß der Geier, wo er geblieben ist! Mir ist halt keiner eingefallen.

Dafür jede Menge anderes, Gott sei Dank.

Seitdem rede ich nur noch über fertig Geschriebenes, nie mehr über Pläne – und auch kein Wort über alles Unfertige.

Die Zeit, in der ich über das nächste Buch nachdenke, aber noch nicht zu schreiben begonnen habe, ist seltsam insofern, als man eigentlich denken möchte, dass es sich um eine tolle Zeit handeln müsste. Große Freiheit eben, wie gesagt. Das Ungeschriebene liegt vor dir wie die offene Prärie, weit bis zum Horizont, der Entdeckung harrend. Du kannst dahin reiten oder dorthin, nach Westen, Osten, Süden oder Norden. Deine Entscheidung. Kein Chef sagt: Nimm jenen Weg und nicht den anderen. Du kannst es selbst aussuchen. Roman, Kurzgeschichte oder Aphorismensammlung, Essay, Satire, alles möglich.

Ich liebe das. Rein theoretisch.

In der Praxis … Du musst dich halt entscheiden. Du musst einen Weg einschlagen, von dem du nicht genau weißt, ob es der richtige ist. Es kann sein, dass du scheiterst, dass du nach Monaten der Arbeit merkst, dass nichts aus der Sache werden wird. Dass du alles weglegen und neu beginnen musst.

Ist mir zwar noch nicht passiert. Aber könnte ja mal sein. Dieses Mal vielleicht.

Ächz.

Bei dieser Entscheidung hilft nur eines: die Freude an der Arbeit. Schreiben ist eine zutiefst egoistische Angelegenheit für mich. Ich kann nur schreiben, wenn ich Spaß daran habe. Es hat keinen Sinn für mich, mir zu überlegen, was andere Leute lesen wollen, was der Markt verlangt, womit ich schon erfolgreich war und vermutlich weiter erfolgreich wäre. Ich muss es selbst toll finden. Ich muss mich jeden Morgen auf die Arbeit freuen können.

Auf dem Foto hier nebenan sehen Sie mich übrigens auf dem Weg zum Licht, zur Freude – auf der Treppe zu meinem Büro.­

Als ich mit den Wumbaba-Büchern begann, musste ich oft so lachen, dass ich keine andere Chance hatte, als weiterzumachen, weil ich nämlich weiterlachen wollte. Als ich mich an das Anstands-Buch machte, war ich getrieben von dem Wunsch, zu verstehen, was dieser muffige, altmodische, wie ein alter Schuh ausgelatschte Begriff für mein eigenes Leben in diesen Zeiten heißen könnte. Als ich über Die Tage, die ich mit Gott verbrachte nachdachte, wollte ich wissen, was „Gott“ für mich bedeutet hatte und was nicht. Und was er weiter bedeuten könnte. Und was nicht.

Und nun will ich …

Na ja, es gibt zwei Möglichkeiten, zwei Buch-Pläne. In ungefähr zwei Monaten werde ich mich für eine von beiden entscheiden. Nächstes Jahr im Herbst werde ich Ihnen sagen können, welche es gewesen sein wird. Vielleicht auch erst im Jahr darauf.

Dauert also alles mal wieder. Oft wünschte ich, es ginge schneller.

Deshalb schreibe ich ja jede Woche meine Kolumne im Magazin der Süddeutschen Zeitung. Da muss man nicht so lange arbeiten, bis mal was gedruckt wird. Und man muss sich deshalb auch schneller entscheiden.