Gerade habe ich eine ziemlich lange Lesetour hinter mir, elf Auftritte in 17 Tagen, das ist auch für meine Verhältnisse echt viel.

Kleinmachnow, Berlin, Dresden, Cottbus, Frankfurt/Main, Nordhorn, Seelze, Fulda, Jena, zwei Mal München, es war alles dabei: kleine Stadtbibliotheken, große Theater, volle Säle, nicht so volle Säle, große Bahnhöfe, kleine Bahnhöfe, pünktliche Züge, verspätete Züge, ICEs und Regionalzüge, miserable Bahnhofsmahlzeiten, dazwischen ein schönes Mittagessen im Goldenen Karpfen in Fulda, dazu später mehr.

Hin und her, rauf und runter.

Auf Lesereisen schwanke ich oft zwischen Schwermut und plötzlicher großer Freude.

In Cottbus zum Beispiel hatte ich ein Hotelzimmer von niederschmetternder Hässlichkeit. Das Haus lag an einer lärmenden Kreuzung, der Vorverkauf war erschütternd schwach gewesen. Grundsätzlich kommt zur Zeit nur etwa ein Drittel bis die Hälfte der Menschen, die früher kamen. Viele haben noch Angst vor Corona, andere haben sich wohl an ein Leben auf dem Sofa gewöhnt, etliche deprimiert der Krieg, und dann ist da noch die wirtschaftliche Lage … Knapp hundert Leute. Früher wären es doppelt so viele gewesen. Aber in Fulda waren es zum Beispiel nur 40, wo sonst hundert gekommen wären, in Dresden 400, da kamen sonst 800 ins Staatstheater, viele Sitze waren immer noch gesperrt, der Seuche wegen. Dabei liegen sich in den Lokalen in der Stadt die Leute längst in den Armen vor Freude, das verstehe, wer will.

Als Corona begann, schwamm ich auf einer Welle der Euphorie, was Lesungen anging, fast überall war ausverkauft. Und jetzt ist es eben so. In Jena war es dafür rappelvoll, im Münchner Volkstheater auch.

Man möchte manchmal klagen. Oder man nimmt es eben, wie es ist.

Ich tue beides, heute dies und morgen das.

Vor der Lesung spazierte ich durch Cottbus‘ Zentrum, hungrig. Ich esse fast nie Burger, nun aber kaufte ich mir in meiner Ratlosigkeit einen Cheeseburger im Burgerbüro in der Marktstraße, setzte mich an der Stadtmauer auf eine Bank, blickte auf die Wohnsilos gegenüber. Und biss in den Burger.

Und plötzlich …

Der Burger war ein Traum, ganz frisch. Die Semmel, in der das Fleisch lag, leicht und fluffig, alles bestens. Es war der beste Burger, den ich je verzehrte, was nicht so viel bedeutet wie bei Donald Trump, aber immerhin.

Ein Mann radelte vorbei. Er rief: „Ja, hallo, Herr Hacke, ich freue mich schon auf die Lesung!“ Später sahen wir uns am Büchertisch wieder und plauderten. Ich erzählte von meinem Hotel. Er empfahl mir für das Frühstück das Café Schiller neben dem Theater, das öffne schon um sieben, ab acht gebe es Frühstück. Da saß ich dann auch in der Frühe, sehr guter Kaffee von Dinzler, eine Eierschecke, einen Obstsalat. Die Bedienung: wahnsinnig nett.

Ich war voller Groll gegen Cottbus angekommen. Nun wäre ich am liebsten noch etwas geblieben.

Oder Fulda. Die Stadt ist immer schwierig gewesen, als Ort für Lesungen, meine ich, und wie ich von Kollegen höre, gilt das nicht bloß für mich. Aus unerklärlichen Gründen kommen hier immer weniger Leute zu den Veranstaltungen als überall sonst, bitte, Fulda, was soll das? Warum bist du so anders als alle anderen, was das angeht? Kommt hinzu: Der Bahnhof ist noch trister als viele andere. Und warum habe ich immer in einem Hotel gleich daneben übernachtet, einer anonymen Übernachtungsstätte mit Blick auf: irgendwelche Siedlungen? Nie, wie jetzt, im Goldenen Karpfen mitten in der Stadt?

Ich weiß es gar nicht mehr genau, das ist es ja.

Ich hätte Grund, mit Fulda zu hadern, das tue ich auch. Aber es liegt nun mal sehr zentral, man kommt immer wieder vorbei, warum also nicht aus dem Zug steigen und einen Abend lang lesen?

Es ist ja auch eine schöne barocke Stadt, alt – und reich an Geschichte.

40 Leute.

Es ist schwer, bei einem so kleinen Publikum eine kohärente Stimmung zu erzeugen, die man dann auch auf der Bühne spürt. Bei einigen hundert Menschen, die einen Saal bis an den Rand füllen, gibt es immer einen, der lacht, und eine, die klatscht. Das pflanzt sich fort, es entsteht ein Zusammenhang. In der Corona-Zeit, in der die Menschen auf Abstand im Publikum saßen, war das schwieriger. In einem Theaterraum kommt es immer auf die Verbundenheit zwischen den Menschen an, denen auf der Bühne und denen auf den Stühlen, auch untereinander. Je größer diese Verbundenheit, desto gelungener der Abend.

In Fulda ging eine gewisse Verlorenheit nie weg. Wenig los am Büchertisch, logischerweise. Die Lücken in den Stuhlreihen. Meine Müdigkeit vielleicht auch, während einer anstrengenden Reise. Und das Grundgefühl: Das neueste Buch ist erschienen, es verkauft sich gut, aber im Grunde heißt das nicht anderes als: Du stehst wieder vor dem nächsten Buch, von dem du noch zu wenig weißt, um dich sicher zu fühlen. Und auf einer Lesereise schreibe ich zwar auch jeden Vormittag im Hotel, aber sehr oft komme ich dann doch nicht richtig dazu. Die Tage sind zu zerrissen zwischen Theatern, Hotels, Bahnhöfen.

Insgesamt: Grund genug, gedrückt ins Hotel zu schleichen.

Und dann steht beim Weggehen vor der Tür des Saals eine Leserin. Sie schließt ihr Fahrrad auf und sagt: Danke für den schönen Abend! Sie habe schon vor Jahrzehnten den Kleinen Erziehungsberater gelesen und dann vieles andere, und es sei heute wirklich eine tolle Lesung gewesen. Später schreibt mir Leser B.: „Ganz besorgt habe ich mich an dem Abend gefragt, ob das Kulturleben erst langsam wieder in Gang kommen muss und ob das überall so ist. Mir kam es komisch und falsch vor. Vor Corona noch volles Haus im viel größeren ‚Kreuz‘ - und jetzt das? Es würde mich traurig machen, wenn der Abend dazu führen würde, dass Fulda aus der Liste Ihrer potenziellen Vortragsorte getilgt werden würde, weil Sie ihn in unangenehmer oder unwirtschaftlicher Erinnerung haben.“

Ich denke an diese beiden. Ich denke an den Leser in Cottbus. Ich denke an zwei Leserinnen in Seelze. Seelze ist (bitte verzeihen Sie mir, wenn Sie dort leben, wenn Sie den Ort aus guten Gründen gern haben, wenn er ihre Heimat ist und wenn ich etwas übersehen haben sollte) in seinem Zentrum von einer gewissen Trostlosigkeit. Aber diese beiden Frauen, die mit ihren Männern auf die Lesung warteten, riefen mir zu, wie sehr sie sich auf den Abend freuten und dass sie mir doch schon mal geschrieben hätten, ob ich mich erinnerte?

Ja, das tat ich. Es war eine sehr lustige Korrespondenz über die Alltagssprache von Grundschülern gewesen. Und wir unterhielten uns auch jetzt sehr angeregt.

­
Ich denke an die Leidenschaft und Freude, mit der die Leute in den Stadtbibliotheken in Seelze und Nordhorn ihrer Arbeit nachgehen, jede dieser Büchereien eine Bastion der Kultur in ihrer Stadt, und jede erinnert mich an die kleine Stadtteilbibliothek in Braunschweig-Süd, in der ich mich als Kind mit jenem Lesestoff versorgte, der mir Hoffnung gab auf ein besseres Leben.

Ich denke an die herzwärmende Dankbarkeit, mit denen sie mir aus diesen beiden Büchereien nach den Lesungen schrieben. Das war jede Verspätung, jedes Herumhocken auf einem Bahnhof, jede Fahrt in irgendeinem über die Gleise schwankenden Regionalexpress wert.
­
Ich denke an Brigitte und Thomas Reinsch, die in Jena vor Jahren ein kleines Hotel eröffnet haben, eine wunderbar besondere Herberge mitten in der Stadt, von deren oberstem Zimmer man einen herrlichen Blick über die Dächer hinweg und in die Wälder hinüber hat, VielHarmonie heißt sie, denn Thomas Reinsch war Musiker an der Philharmonie der Stadt. Beim Signieren standen sie plötzlich vor mir, sie kamen immer zu meinen Lesungen, aber nun erst lernte ich sie kennen.

Ich denke an Frau Tünsmeyer, die mit ihrer Schwester den Goldenen Karpfen in Fulda führt. Als sie mir den Frühstückskaffee brachte, erzählte sie, dass sie zwar kein Abonnement der Süddeutschen Zeitung habe, das Magazin aber jeden Freitag von einem Nachbarn bekomme, der Kolumne wegen, die sie liebe.
­
Sowas hört man natürlich gerne am Morgen.
­­ ­
Ich war voller Groll gegen Fulda angekommen. Nun wäre ich am liebsten noch etwas geblieben. Ich saß später mittags im Gastgarten des Karpfens, blinzelte in die Sonne, freute mich über den Gruß eines vorbeigehenden Herrn, der tatsächlich auch am Abend in der Lesung gewesen war, aß hervorragend, trank gegen jede Gewohnheit mittags ein Glas Wein und dachte: Fulda, du Schöne, vielleicht wird es ja noch was mit uns beiden?

Ich vergesse bisweilen bei den Lesungen, bei denen man von der Bühne aus das Publikum immer als Ganzes empfindet, dass es auf die Einzelnen ankommt: auf jeden und jede Einzelne im Saal, die Bücher und Kolumnen lesen, mit ihnen leben, in deren Köpfen die Geschichten weitergehen. Ja, ich vergesse es immer wieder, leider.

Aber die vielen Einzelnen erinnern mich dann, Gott sei Dank, immer wieder daran.

Nun kommt bald die Sommerpause. Zeit zum Schreiben und zum Nichtstun.
­
­Siehe hierzu das Kapitel über das Nichtstun im Urlaub in Ein Haus für viele Sommer. „Wer wirklich nichts tun will, der muss erst einmal verstehen, was das eigentlich ist: nichts. Denn erst, wenn man das weiß, kann man es tun, das Nichts.“

Zwei Lesungen noch, am 2. Juni in Altusried und am 3. Juni in Gröbenzell. Danach fast fünf Monate alle Abende frei. Zeit, das Nichts verstehen zu lernen.