Der Schweizer Autor Lukas Bärfuss, den ich sehr schätze, hat kürzlich der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein langes Interview gegeben. Es ging um den Reichtum der Schweiz, seine von Armut geprägte Kindheit, auch um seinen Vater, der im Gefängnis saß. Und von den fünf Jahren, die er selbst auf der Straße lebte, war die Rede. Vor mehr als dreißig Jahren bekam er dann eine Stelle in der Comics-Abteilung einer Berner Buchhandlung, wo er kündigte, als er 26 war. Danach begann sein Leben als Schriftsteller. Schon vorher habe er, so Bärfuss, neben der Arbeit im Laden, „wie ein Irrer“ geschrieben – und vor allem ein paar wichtige Lektionen gelernt.

„Ich wusste, woher ich kam“, sagte Bärfuss. „Und ich wusste, dass jeden Tag ziemlich viele Idioten aufstehen. Ich musste bloß ein bisschen früher auf sein. Es ist ein entscheidender Überlebensvorteil, wenn du täglich zwei Stunden Vorsprung hast.“

Warum?, wurde er gefragt.

Antwort: „Erstens braucht Schreiben Zeit, viel Zeit, und zweitens gibt es den Mut der frühen Stunden. Schreiben braucht Courage, die Dinge rücksichtslos zu denken und auszusprechen. Das geht zwischen fünf und sieben Uhr morgens leichter als nach einem langen, zermürbenden Tag.“

Das hat mir gefallen. Ich bin ein Autor vollständig anderer Art als Bärfuss, aber diesen Mut der frühen Stunde kenne ich in der für mich passenden Form auch. Tatsächlich schreibt es sich zu früher Stunde leichter, freier, besser. Was vielleicht auch damit zu tun hat, dass man wacher und frischer ist, jedenfalls, wenn man abends vorher nicht zuviel getrunken hat. (Wozu mir einfällt, dass es Autoren gibt, die sich ihren Mut antrinken müssen, ich kenne auch solche. Das sind dann aber nicht jene, die besonders früh aufstehen, im Gegenteil, ihr Mut erwacht ja erst zu später Stunde.)

Da ich zur Zeit ständig auf Lesereise bin, muss ich sogar sehr früh aufstehen, um den Vormittag zum Schreiben nutzen zu können. Die meisten Hotels muss man spätestens um 13.00 Uhr verlassen, und nach dem Mittagessen reise ich in der Regel weiter in die nächste Stadt. Länger als vier oder fünf Stunden kann ich ohnehin nicht schreiben, das passt also ganz gut. Und Mut fassen kann man auch noch um acht, es muss nicht um fünf sein. Wobei man um fünf ungestörter ist, niemand lenkt einen da ab, schlafen ja alle noch.

Einmal, das ist lange her, musste ich als Reporter für die Süddeutsche Zeitung ein ganzseitiges Porträt des Golfspielers Bernhard Langer schreiben, hervorragender Sportler und sterbenslangweiliger Interviewpartner. Ich hatte ihn auf dem schottischen Golfplatz Turnberry getroffen (der heute leider Donald Trump gehört), war mit ihm über den Platz gegangen, aber viel mehr als seine Jas oder Neins hatte ich nicht im Block.

Ich fuhr dann in das schottische Spukschloss, in dem ich ein Bed&Breakfast-Zimmer hatte, trank aus lauter Höflichkeit noch Tee mit dem Schlossbesitzer und aß Toast, den ich aber schon ziemlich verzweifelt hinunterschlang, ich wollte mich ja endlich an diesen schwierigen Text machen.

Dann ging ich in mein Zimmer und begann erst abends um sieben mit dem Schreiben. Es war eine entsetzliche Nacht, eine der schlimmsten meines Lebens. Ich bekam nicht eine einzige vernünftige Zeile zu Papier, riss Blatt um Blatt aus meiner Maschine (ja, ist lange her, man schrieb noch auf Maschinen ...) und saß bis zum Hals in zerknüllten Manuskriptblättern.

Morgens um vier fiel ich in einen ohnmachtsähnlichen Schlaf, hatte vorher den Wecker auf sechs gestellt, und hackte dann nach einer kalten Dusche in Höchstgeschwindigkeit die erwähnte ganze Zeitungsseite in die Maschine. Es war keine Zierde der Reportagekunst, kein Schmuckstück in meiner Laufbahn als Zeitungsmann. Aber der Text füllte doch die ganze Seite Drei der Süddeutschen.

Nie wieder würde ich erst abends mit dem Schreiben beginnen, beschloss ich. Denn seitdem glaube ich auch an den Mut der frühen Stunde. Obwohl ich in Schottland doch wohl eher vom Mut der Verzweiflung erfasst war.