Ich schreibe dies im Chiemgau, mit Blick auf eine Wiese, einen Wald und die hierzulande üblichen Berge.

Seit Jahrzehnten haben wir nicht nur ein altes Haus in Italien, sondern auch eine kleine Wohnung auf einem Bauernhof. Wir haben sie gemietet, weil wir wollten, dass unsere Kinder, die in der Stadt aufwuchsen, auch das Landleben kennen lernten. So kam es auch. Sie waren bei der Geburt von Kälbern dabei und sahen Kühe sterben, spielten mit den Katzen auf dem Hof, badeten im See, fuhren mit uns Kanu, durften auf Traktoren mitfahren, ließen im Herbst Drachen steigen, und im Winter rodelten sie und fuhren Ski. 

Stadtkinder sind sie trotzdem geblieben.

Nun hat unsere jüngste Tochter Abitur gemacht. Und plötzlich ist da ein Sommergefühl, wie ich es früher, als Kind, vor den großen Ferien hatte: Endlosigkeit und große Weite. Die Sommerferien begannen immer mit dem Empfinden, sie würden nie enden, sie waren das Versprechen einer riesengroßen Freiheit. Genau so ist das nun auch wieder. Wir werden nie wieder Rücksicht auf Schulferien nehmen müssen (es sei denn auf die der Enkel), in deren Rhythmus wir (bei vier Kindern ist das eben so) seit mehr als dreißig Jahren leben, ja, wenn man die eigene Schulzeit dazu rechnet, sogar seit mehr als vierzig. Nie wieder Schulferien – und paradoxerweise gerade deshalb jetzt dieses Sommerferiengefühl von einst.

Ein neues Leben beginnt.

Ich werde weniger im Büro sein, in dem in München, meine ich. Wobei: Seit eh und je bin ich gewöhnt, dass mein Büro dort ist, wo ich bin. Ich war zwanzig Jahre lang Zeitungsreporter. Ich schrieb auf windigen Stadiontribünen, in gigantischen Olympia-Pressezentren, auf Herrentoiletten in Sarajevo und in gruseligen Mansarden schottischer Spukschlösser, in verwanzten Pariser Pensionszimmern und in luxuriösen Suiten der besten Hotels, auf dem Fahrersitz eines parkenden Autos und auf dem Platz des Beifahrers, während der Wagen fuhr.

Als Reporter darf man nicht wählerisch sein. Es musste manchmal reichen, die Schreibmaschine auf die Knie stellen zu können und loszutippen. Später den Laptop.

Büro ist überall.

Weil das so war, hat es mir später, als Schriftsteller, nie viel ausgemacht, auch am Küchentisch der Familie zu arbeiten, auf dem sich die Einkäufe für das Mittagessen türmten. Wenn ich schreibe, ist es, als säße ich unter einer Glasglocke, die mich abschirmt von dem, was um mich herum geschieht. Ich bin daran nicht mehr wirklich beteiligt.

Ich bin sehr froh, diese Fähigkeit zu haben. Ich bin keiner, der immer dasselbe Büro benötigt und immer dieselben Wände, der durch keinerlei Geräusch gestört werden darf („Ruhe, Kinder, Papa schreibt!“) und noch die Fenster von innen mit Alufolie verklebt, wie Jonathan Frantzen das angeblich tut, wenn er an einem Roman arbeitet.

Andererseits habe ich vielleicht deswegen noch keinen Roman geschrieben. Na ja, wer weiß …?

Dies ist der Sommer einer neuen Freiheit. (Vermutlich eine Illusion angesichts schon wieder steigender Corona-Zahlen, aber ich gebe mich trotzdem dem Gefühl für einen Moment hin.) Die Segnungen des Internets bringen es mit sich, dass ich meine Kolumne für das Magazin der Süddeutschen Zeitung überall verfassen kann. Und meine Bücher auch. Ich werde in unserem Olivengarten in Italien schreiben, am Küchentisch in unserem alten Haus, am Esstisch im Chiemgau, an einem Schreibtischchen in irgendeinem Hotel und in meinem Büro in München.

Und wer mich darum beneidet, dem kann ich gerne ein wenig darüber erzählen, wie es ist, morgens aufzuwachen und noch kein Thema für die Kolumne zu haben, die ein paar Tage später eine Heftseite füllen muss, keine Idee für das nächste Buch zu bekommen oder mit dem Gefühl zu kämpfen, dass der Einfall, den man dann doch irgendwann hat, nichts taugt. Oder zu ahnen, dass man mit der Art, wie man diese Idee in den vergangenen Wochen umzusetzen versucht hat, scheitern wird.

Über diese Ängste könnte ich nicht nur einen Brief aus dem Büro schreiben. Ich könnte ein Buch damit füllen.

Vielleicht ein anderes Mal.

Jetzt kommt der Sommer.