Axel Hacke zuhören:

Selber lesen:

Hundert Meter entfernt von unserem Turm, von dem ich berichten werde, in einer kleinen Seitengasse des Dorfes, haben wir eine Cantina, in der wir Fahrräder aufbewahren, auch eine Vespa, dann zum Beispiel Fliesen, die wir vielleicht noch mal brauchen werden. Solche Sachen. Die Waschmaschine steht ebenfalls dort, und die Cantina ist sogar so groß, dass der alte Fiat 500 dort Platz hat, von dem ich auch noch erzählen möchte, später.

Also, es ist praktisch eine Garage, allerdings eine uralte. Wie viele Häuser im Dorf ist auch das Gebäude, zu dem die Cantina gehört, teils in die Felsen gerammt, teils klebt es auf ihnen. Der Raum hat ein Holztor, das so schmal ist, dass nur eine einzige Art von Auto hindurchpasst (eben ein alter Fiat 500), und zwei glaslose Fenster, weit oben an den hohen Wänden. 

Dorthin bringe ich die leeren Koffer, wenn wir sie ausgepackt haben und für eine ganze Weile nicht mehr brauchen.

Wir haben die Cantina vor vielen Jahren von Matilde gekauft, einer alten Frau aus dem Dorf. Ihr Mann hatte in den Jahren vor seinem Tod hier fast jeden seiner Tage verbracht, hatte Fischernetze geflickt, seinen Bootsmotor repariert und die Trauben von einigen Weinstöcken gekeltert, die er draußen vor dem Dorf besaß. Aber die meiste Zeit hatte er wohl einfach nur drinnen gesessen, sich mit Freunden unterhalten oder eben, nun, was soll man sagen ...? 

Er hat drinnen gesessen, wie viele alte Männer hier das in solchen Räumen tun, auch Antonio zum Beispiel, der sich früher im Winter um unsere Vespa kümmerte, die Zündkerzen reinigte, kleine Reparaturen machte. Damals hat er auch unseren Bootsmotor gewartet, ihn zum Beispiel in Süßwasser laufen lassen, was man jeden Winter machen muss, damit er nicht kaputtgeht. Das tut Antonio heute nicht mehr. Er ist zu alt.

Aber in seiner Cantina sitzt er immer noch. Seit dreißig Jahren verbringt er seine Tage dort. Was er da genau tut, weiß ich nicht. Es ist einfach eine Gewohnheit, und eine Zeit lang träumte ich davon, es auch mir zur Gewohnheit werden zu lassen, morgens bisweilen einen Stuhl in die Cantina zu stellen und darauf sitzend den Tag zu verbringen, zwischendurch eine Mutter an meinem Fahrrad nachzuziehen, das Ende des Schleudergangs der Waschmaschine abzuwarten, den Raum auszufegen oder den Schlauch neu aufzurollen, mit dem ich bisweilen den kleinen Platz vor der Cantina abspritze, um ihn zu säubern.

Die Zeit verstreichen zu lassen ...

Nirgendwo anders habe ich so ein deutliches Gefühl für das Verstreichen der Zeit gehabt wie hier im Dorf oder oben auf dem Ripidello, dem Hügel einige Kilometer außerhalb des Dorfes, wo du auf einer uralten Mauer sitzen kannst und zusiehst, wie ein Wind die Olivenblätter leise bewegt und wie die Zeit zusammen mit dem Wind durch die Bäume streicht und dabei langsam verstreicht. Oder wie eben in der Cantina, wo ich manchmal herumsitze, bevor ich den Raum ausfege oder ein paar Strandhandtücher wasche, während es draußen, in der Nachmittagszeit, vollkommen ruhig ist, weil die Zeit tatsächlich für Augenblicke ganz still steht, bevor sie weiterstreicht.

Matilde hatte den Raum nach dem Tod ihres Mannes noch einige Jahre lang behalten, ohne ihn wirklich zu benutzen, wohl zur Erinnerung an den Verstorbenen und aus Respekt vor ihm. Aber dann wollte sich die Tochter mit ihrer jungen Familie ein Haus bauen, sie brauchte Geld. So konnten wir zum Notar gehen.

In der Nähe unserer Cantina lebt, in einer kleinen Wohnung auf dem Weg dorthin, ein Mann namens Pietro. Oft, wenn ich das Tor aufschließe, höre ich ihn in meinem Rücken rufen, weil er gerade vorbeigeht.
Axellll, ciao, come stai? Wie geht es dir?
So ist es auch jetzt. Pietro ist oft der erste Dorfbewohner, mit dem ich rede, kaum bin ich da.
Axellll, ciao, come stai?
Er ruft es laut und immer im Ton höchster Freude und größter Überraschung, als seien wir alte Freunde und hätten uns seit vielen Jahren nicht gesehen. Dabei begegnen wir uns jeden zweiten Tag, kennen uns aber erst, seit wir die Cantinahaben, ein paar Jahre lang also.
Pietroooo!, rufe ich, als hätte ich nicht im Geringsten mit ihm gerechnet. (Dabei wusste ich genau, dass er mich gleich rufen würde).
Tutto bene?, frage ich. Alles klar bei dir?

Anfangs ist mir Pietro auf die Nerven gegangen. Wenn ich zur Cantina gehe, habe ich es nämlich meistens eilig. Ich will etwas holen, die Waschmaschine anwerfen, Wäsche aufhängen oder mit der Vespa wegfahren. Pietro aber hat immer etwas zu erzählen, und er erzählt es auch, mit großer Intensität und Inbrunst, mit gepressten Konsonanten, gedehnten Vokalen und viel Zeit. Als wir uns das erste Mal sahen und er gleich auf mich einredete, das Gesicht dicht vor meinem, wollte ich ihn rasch wieder loswerden. Ich hielt ihn für ein wenig verrückt.

Was soll’s?, denke ich heute, das ist ja Unsinn. In dieser Cantina hat ein alter Mann so viel Zeit verbracht, dass in allen Ecken noch etwas von ihr herumliegt, von der Zeit, meine ich. Dieser Raum ist ein Lager für alte, unverbrauchte Zeit. Und von dieser alten, unverbrauchten Zeit verbrauche ich jetzt ein Viertelstündchen mit Pietro. Wenn dir dieser kleine, überaus freundliche Mann auf die Nerven geht, dann stimmt was mit deinen Nerven nicht, denke ich.

Hast du gesehen, wie schön ich meine Treppe repariert habe?, fragt er. 
Tatsächlich, großartig, sage ich.

Diese Treppe hatte vorher nur ein paar hässliche grobe Betonstufen, die nach oben führten. Die hat er mit rotbraunen Cotto-Fliesen belegt, ein Geländer aus Holz gibt es auch. Auf der ersten Stufe steht eine kleine Peperoncino-Pflanze. Pietro pflückt drei der kleinen roten Früchte und gibt sie mir.

Wie nett!, sage ich, danke, die nehmen wir heute Abend für die Spaghetti, wir machen sie con aglio, olio e peperoncino.
Esatto! So machst du es!
Er schreit es. Jubelt es geradezu heraus.
Esattoooo!
Es ist eines der Wörter, die er am häufigsten benutzt.Oft erfüllt es mich mit einem kindischen Stolz, wenn er wieder dieses Esattoooo! schreit, weil es nämlich bedeutet, dass ich etwas richtig gemacht habe, irgendetwas.
Ich kann zum Beispiel erwähnen, dass Turin die Hauptstadt des Piemont ist.
Esattoooo!
Oder dass man, wenn man in die Hauptstadt will, unten an der Kreuzung am besten links abbiegt.
Esattoooo!
Dass die Straßenfeger sich mal ein bisschen mehr um unsere kleine Gasse hier kümmern könnten.
Esattoooo!

In jedem Gespräch kommt Pietro mir, wie schon erwähnt, sehr nahe. Meistens rückt er sein Gesicht so dicht vor meines, dass ich unwillkürlich zurückweiche. Es kann sein, dass wir ein Gespräch vor meiner Cantina beginnen und es zwanzig Meter weiter die Gasse hinunter beenden. Würde ich nicht unsere Unterhaltungen immer irgendwann etwas brüsk beenden, weil ich trotz des Cantina-Zeitvorrates noch etwas anderes zu tun habe, als mit Pietro zu reden, würde er, glaube ich, immer weiter und weiter reden. Ja, ich denke, er würde mich, den Zurückweichenden, irgendwann rückwärts durchs komplette Dorf gequatscht haben, bis ich am Strand stünde, mit dem Rücken zum Meer, in das mich Pietro dann auch noch hineinredete.

Erst spät habe ich kapiert, warum das so ist. Pietro sieht nämlich schlecht, sehr schlecht.

Er habe eine Makuladegeneration, hat er mir eines Tages erzählt. Die Makula ist die Stelle der Netzhaut, an der man am schärfsten sieht. Was der Mensch direkt anschaut, wird auf der Makula abgebildet. Alles andere sieht er außerhalb der Makula, sozusagen an der Peripherie der Netzhaut. Deshalb kann Pietro sich gut durchs Dorf bewegen. Aber wenn er mich direkt anblickt, sieht er mich schlecht.

Es sei denn, sein Gesicht wäre zwanzig Zentimeter vor meinem.

Ausführlich erklärt er mir, dass es eine feuchte und eine trockene Variante der Makuladegeneration gebe; er leide unter der trockenen. Vor drei Jahren habe er den Führerschein zurückgegeben, lesen könne er auch nichts mehr.
Nur dreihundert Leute haben das in Italien, sagt er, und es gibt bloß drei Professoren dafür, in Mailand, Rom und Neapel. Er sagt es nicht klagend. Eher scheint er begeistert zu sein, dass er zu einer so kleinen Minderheit gehört und von solchen Koryphäen behandelt wird.

Allerdings ist die Makuladegeneration die häufigste Augenerkrankung der westlichen Welt, und die trockene Art kommt viel öfter vor als die feuchte. Das sage ich Pietro aber nicht, er hat da vielleicht was falsch verstanden, aber wie soll ich ihm das erklären und warum überhaupt? Ich habe es sowieso erst daheim nachschlagen müssen. Ohnehin ist es bei meinem miserablen Italienisch ein Problem, dass ich mir vieles von dem, was er sagt, erst zu Hause zusammenbuchstabiere, und dass ich, weil Pietro auch noch sehr schnell redet, irgendwann ohnehin den Faden verliere, nur noch nicke und capisco murmele, ich verstehe, capiscocapisco.

Also kann der Fehler genauso gut bei mir liegen, ich habe ja fast nichts verstanden, nur noch, dass Pietro aus bescheidensten Verhältnissen stammt und oft Hunger litt, richtigen Hunger.
Fame!, ruft er, als habe er gerade jetzt auch Hunger, und drückt sich mit den Händen in der Magengegend.
Fame!, Axellll, quella fame! Il dolore della fame! 
Dieser Hunger. Der Schmerz des Hungers.
Er schaut mich mit einem verzehrenden Blick an, als wüte just jetzt dieser entsetzliche Hunger in seinen Eingeweiden.

Dabei geht es ihm ganz gut heute, das glaube ich jedenfalls. Er war Gärtner, jetzt ist er in Rente, lebt allein. Seine Tochter arbeitet in einem Restaurant in der Hauptstadt, dort wohnt sie auch. Den Winter verbringt er immer in Australien, wo der Sohn lebt, in Sydney. Manchmal erzählt er auch von Brisbane, wo er gewesen sei. Oder von Neuseeland. Überall habe er Freunde, ruft er, so viele Freunde. Nur im Dorf sehe ich ihn nie mit den anderen. Immer ist er allein vor seinem kleinen Haus und allein auf seinen Wegen.

Gib mir doch deine Handynummer, sagte er einmal, als wir uns gerade kennengelernt hatten, falls mal was ist mit deiner Cantina, dann rufe ich in Deutschland an, oder du rufst mich an, dann kann ich dir helfen. Und ich gebe dir meine. So machten wir es.  Eines Tages im tiefen Winter stand ich dann am Fenster eines kleinen Hotels in den Bergen, es war Silvester, ich schaute ins Schneegestöber und dachte an die bevorstehende Party, zu der wir gehen wollten und zu der ich keine Lust hatte.

Da klingelte mein Handy.
Axellll, jubelte eine Stimme. Come stai?
... Pietro?
Esattoooo!
Es wird doch nichts passiert sein, dachte ich, in meiner Cantina. Es wird doch nicht alles abgebrannt sein, eingestürzt oder geplündert, jetzt, mitten im Winter.
Ma dove sei, Pietro? Wo bist du?
A Sydney!
Er rief mich aus Australien an, vom anderen Ende der Welt, es war nicht zu fassen. Er hatte meine Nummer in seinem Telefon entdeckt und vielleicht gedacht: Wozu habe ich seine Nummer, wenn ich sie nie wähle? Also hatte er sie eben gewählt.
Wir wünschten uns ein gutes neues Jahr. Schwupp, war er wieder weg.

Und ich, ins Schneegestöber blickend, freute mich auf das Jahr, und auf den Frühling auf der Insel freute ich mich auch.

So ist das geblieben. Seit Jahren ruft mich an jedem Silvestertag Pietro aus Sydney an, und wir sagen uns, dass wir es kaum erwarten können, uns wieder im Dorf auf der Insel zu sehen.