Arbeiten Sie eigentlich jeden Tag?, fragt mein Orthopäde.

Was dachten Sie denn?, frage ich zurück.

Ach, ich dachte, vielleicht schreiben Sie nur, wenn Sie eine Idee haben.

Und was glauben Sie, woher die Idee kommt?

Das weiß ich nicht. Ich bin Orthopäde. Ich brauche keine Ideen, nur die Wirbelsäulen, Achillessehnen und Schultersyndrome anderer Leute. Daran herrscht nie Mangel.

Ich sage das Sprüchlein auf, das vermutlich die meisten Autoren bei solchen Gelegenheiten aufsagen: Man arbeitet nicht, wenn man Ideen hat, sondern man hat Ideen, wenn man arbeitet, also wenn man sich mit seinem Thema oder mit dem Stoff beschäftigt, irgendwas probiert, herumdenkt und an die Wand starrt, bis plötzlich eines dieser gottverdammten Lämpchen zu flackern beginnt, der Motor der Maschine rattert und die Sache Fahrt aufnimmt.

Übrigens, ich glaube, es gibt nichts Langweiligeres als den Alltag eines Schriftstellers. Von außen betrachtet jedenfalls.

Über Haruki Murakami habe ich gelesen, er stehe jeden Tag um vier Uhr morgens auf, schreibe fünf bis sechs Stunden ohne Pause, gehe dann laufen oder schwimmen, mache Besorgungen und höre Musik. Um 21 Uhr: Schlafenszeit. Charles Schulz, der Schöpfer der Peanuts, brachte morgens die Kinder zur Schule, dann arbeitete er bis 16 Uhr ununterbrochen, mittags aß er ein Schinkensandwich und trank Milch. Jonathan Franzen schloss sich für Die Korrekturen in seinem Arbeitszimmer in Harlem ein, ließ die Rollläden herunter, schaltete das Licht aus und setzte sich mit Ohrstöpseln, Ohrenschützern und einer Augenbinde vor den Computer, um sich zu konzentrieren.

Das ist schon etwas abgefahrener, was?

Na ja, die meisten anderen Autoren erzählen dafür nur irgendwas von schlafen und schreiben und mittags was essen. Ich empfehle dazu die Lektüre von Mason Curreys kleinem Band „Für mein kreatives Pensum gehe ich unter die Dusche“. Updike gefiel mir mit seinen Sätzen in dem Büchlein: Er möge es „gerne geregelt – ähnlich wie ein Zahnarzt, der jeden Morgen bohrt –, bis auf sonntags, sonntags arbeite ich nicht, und manchmal mache ich natürlich auch Urlaub“. Und Stephen King, interessant jetzt: Ich konnte Stephen Kings Bücher nie lesen, weil mir alles, was er schreibt, zu gruselig ist. Ich musste mich also mein Leben lang zwischen Stephen King und meinem Nachtschlaf entscheiden, und ich habe immer für den Nachtschlaf votiert.

Aber über das Schreiben hat King ganz gute Sachen gesagt und geschrieben, zum Beispiel: „Wie Ihr Schlafzimmer auch, so sollte Ihr Schreibzimmer ein privater Ort sein, ein Ort, an dem Sie träumen können. Ihren Zeitplan – jeden Tag ungefähr zur gleichen Zeit anfangen, aufhören, wenn tausend Wörter zu Papier oder Festplatte gebracht sind – gibt es, damit Sie sich daran gewöhnen, sich traumfertig zu machen, so wie Sie sich jeden Abend bettfertig machen, indem Sie dabei stets demselben Ritual folgen.“

Also: Schreiben ist so was wie zu Bett gehen, nur ohne Sex. Schnarch.

Na gut, bei Simenon war es anders.

„Die meisten Menschen arbeiten täglich und haben nur hin und wieder Sex“, schrieb sein Biograf Patrick Marnham. „Simenon hatte jeden Tag Sex und gab sich alle paar Monate einer wilden Schreiborgie hin.“ Die dauerte dann so zwei, drei Wochen, manchmal schrieb er pro Tag einen Roman. Danach schrieb er oft monatelang nichts, schlief aber angeblich mit vier Frauen pro Tag. Im Laufe seines Lebens, so zählte er selbst, waren es an die zehntausend, wie gesagt: seine eigene Zählung.

Ich weiß auch nicht, was die Leute sich immer unter dem Alltag von Autoren vorstellen. Die meisten Kollegen geben sich eine geradezu zwanghafte Ordnung, ich übrigens auch. Denn unser größtes Problem ist die Angst.

Angst? Wovor?

Dass einem nichts einfällt. Dass der Bildschirm leer bleibt. Dass man nichts schafft. Dass man den Kampf verliert. Ich habe mein ganzes Leben diese Angst gehabt, ich werde sie auch im Rest meines Lebens haben. Ich habe immer versucht, sie zu besiegen, bis ich begriffen hatte, dass ich das nicht kann. Ich kann nur mit ihr leben, mehr nicht. Und dazu braucht man einen Käfig für die Angst: Struktur, Rituale, Regeln. 

Wie läuft denn der Tag bei Ihnen, fragt der Orthopäde.

Aufstehen sechs Uhr, sage ich, Sport, also joggen, radfahren oder schwimmen, dann heiße und kalte Duschen, Meditation, Frühstück im Café, dabei Zeitung lesen. Spätestens halb neun im Büro, sonst werde ich nervös. Bevor ich schreibe, mache ich immer einen Kaffee, dann sehe ich auf meinem Konto nach, ob ich noch Geld habe, wirklich, jeden Morgen: ein Ritual. Schreiben dann bis 13 Uhr, nur wenn ich gesehen habe, dass ich kein Geld mehr habe: bis 13.15 Uhr. Mittag essen, dabei weiter Zeitung lesen. Nachmittags Post beantworten, telefonieren, Kolumnenthemen suchen, Interviews, Lesungen planen. Noch mal Meditation. Abends dann das, was andere Leute auch tun, essen, Filme sehen, Theater, spätestens 23 Uhr ins Bett.

Schreiben Sie erst, wenn Sie eine Idee haben, oder kommt die Idee beim Schreiben?, fragt der Orthopäde.

Natürlich das Erste, sage ich. Sie warten ja auch, bis ich krank bin und operieren mich dann eventuell. Oder operieren Sie, um nach einer Krankheit zu suchen? Dann würde ich den Orthopäden wechseln.

Man fragt halt so, als Laie, murmelt er.

Finde ich ja auch toll, sage ich, dass so viele Laien immer gerne wissen wollen, was Schriftsteller so tun. Ich hoffe, ich habe Sie nicht enttäuscht.

Und was tut Ihnen nun weh?, fragt er.