Vielleicht muss man diesem Buch eine Triggerwarnung für empfindliche Gemüter voranschicken. Es ist nämlich an gewissen Stellen nicht leicht zu ertragen. Es geht um die Anschläge in Paris am Freitag, 13. November 2015 (vendredi 13, daher der Titel V13). In der Konzerthalle Bataclan, auf den Terrassen mehrerer Cafés und Restaurants und vor dem Stade de France (während des Spiels Frankreich-Deutschland) wüteten islamistische Terroristen. Sieben von ihnen sprengten sich in die Luft, 131 Menschen rissen sie in den Tod, fast 700 wurden verletzt und viele mehr schwerst traumatisiert. In V13 wird der gesamte Prozess vom September 2021 bis zum Juli 2022 geschildert - und das geht nicht ohne fürchterliche Details des Gemetzels insbesondere im Bataclan.

Das alles ist aber nicht nur auszuhalten, sondern als Lektüre dringlich zu empfehlen, weil Emmanuel Carrère mit seinem Buch ein Meisterwerk gelungen ist. Carrère ist ein in Frankreich und auch darüber hinaus sehr bekannter Schriftsteller und Filmemacher, vielmals preisgekrönt. Er begleitete den Prozess für den Nouvel Observateur und schrieb dann dieses Buch, das heißt, er tat zehn Monate lang beruflich nichts anderes als im Gerichtssaal zu sitzen und den Opfern und ihren Angehörigen, den Staatsanwälten, Nebenklägern und Verteidigern, den Zeugen, Polizisten und Angeklagten zuzuhören.

Ich würde diesem großartigen Werk eine geradezu reinigende Kraft zuschreiben. Das hat einerseits mit den prozessualen Prozeduren zu tun, den klaren und nüchternen Regeln, die sichtbar machen, was gesehen werden muss, es ordnen, klären und am Ende einem Urteil zuführen. Es kommt hier aber auch auf den Autor an, der sich an Spinozas großes Gebot hält: „nicht urteilen, nicht weinen, nicht toben, nur verstehen“.

So arbeitet Carrère, und das ist im höchsten Maße beeindruckend, zumal er ein unglaublich guter Autor und sein Text von Claudia Hamm hervorragend übersetzt ist. Ich habe mir vieles angestrichen in diesem Buch, eines möchte ich noch zitieren, die Sätze nämlich, die er nach dem Plädoyer der drei Staatsanwältinnen und Staatsanwälte notierte.

„Ich weiß nicht, ob dieser Charakterzug einen guten oder schlechten Richter aus mir machen würde, aber ich lasse mich leicht überzeugen. Ich schließe mich den Überlegungen von anderen leicht an, was einerseits eine Qualität ist - Unvoreingenommenheit -, andererseits eine Schwäche, die Gefahr, ein Fähnchen im Wind zu sein, das immer die Meinung dessen teilt, der das letzte Wort hat. Meine innere Überzeugung ist labil und unentschieden. Nachdem ich also zu Protokoll genommen habe, was mich an der Anklagerede überzeugt hat - so ziemlich alles -, nehme ich mir vor, mit wachem Blick zu beobachten, wie ich mich davon abbringen lassen werde.“

Und, halt, noch dieses auch, nur um zu zeigen, dass Verstehen am Ende nicht Urteilslosigkeit bedeutet. Denn dies schrieb er zum Ende der Verhandlung hin über einen Angeklagten, der überlebte, weil er seinen Sprengstoffgürtel nicht zündete.

„Bis zum Erbrechen hat man sich, ich auch, Fragen zu den Gemütszuständen von Salah Abdeslam gestellt. Hat ihn sein Sprengstoffgürtel im Stich gelassen? Hat er Angst bekommen? Hat er einen Anfall von Menschlichkeit gehabt? Sind seine Bitten um Entschuldigung aufrichtig? Aber was bedeutet schon seine Aufrichtigkeit? Was kümmern uns die Gemütszustände von Salah Abdeslam? Ein mickriges Mysterium: eine von Lügen umhüllte, abgrundtiefe Leere, mit der sich so eingehend beschäftigt zu haben man im Nachhinein ein wenig entsetzt ist.“

Abdeslam, so urteilten die Richter, wird bis zu seinem Tod im Gefängnis sitzen. (Gerade erst wurde er in Brüssel in einem weiteren Terrorprozess erneut zu lebenslänglicher Haft verurteilt.) 

Emmanuel Carrère, V13. Die Terroranschläge in Paris. Gerichtsreportage. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Matthes & Seitz Berlin, Diogenes, 25 Euro