Warum wird einer Gerichtsmediziner und Pathologe, also ein Arzt, der sich nicht mit Lebenden, sondern mit Toten beschäftigt, Tag für Tag?
Christian Reiter übt den Beruf seit 45 Jahren aus. Er ist der renommierteste österreichische Rechtsmediziner und hat die Gletschermumie Ötzi untersucht und die Opfer des Absturzes einer Lauda-Air-Maschine, war Sachverständiger in großen Mordprozessen und hat die Haare Beethovens auf der Suche nach dessen Todesursache ebenso untersucht wie die sterblichen Überreste von Mary Vetsera, Geliebte des Kronprinzen Rudolf und von ihm auf Schloss Mayerling 1889 erschossen, bevor er sich selbst das Leben nahm.
Reiter sagt, er habe nie ein heilender Arzt werden wollen. „Ich hatte Sorge, es nicht zu schaffen, mit Patienten über ihr Leid und ihre Angst und ihre Hoffnungslosigkeit zu sprechen.“
Deshalb: Tierarzt. Das war sein Kindheitstraum. Aber die Mutter verbot es ihm. Sie hatte beruflich viel mit Fleischbeschauern aus dem Schlachthof zu tun und beobachtet, dass die zu trinken begannen, weil sie das tägliche Gemetzel nicht ertrugen. Und wenn man draußen auf dem Land bei den Bauern arbeitete, heiße es nach jeder Kalbsgeburt: Dokta, a Schnapserl! Und no a Schnapserl!
Auch hier: Teufel Alkohol.
Das wollte die Mutter nicht, und der Sohn war folgsam, wie es scheint.
Also: Labormedizin? Da stellte er sich als Ferienpraktikant vor, aber just in dem Moment war die Stelle weg, bloß in der Pathologie wurde gerade ein Gehilfe gesucht. So landete er dort, für 45 Jahre, wie gesagt. Ungeheuer interessant! Denn der Pathologe muss alle Krankheiten kennen, aber auch die Spielarten des gewaltsamen Todes. Er müsse, so Reiter, „die Natur kennen, die Botanik, die Zoologie, die Abgründe des Menschlichen, die Kulinarik und technische Details.“
Kurz: Wer sich mit Toten befasst, der muss das Leben kennen wie kein Zweiter.
Das macht dieses Buch so interessant: Es ist eines über das ganze Leben, zu dem ja auch der Tod gehört, dessen Teil er ist, weil, wie Florian Klenk schreibt, auch die Verwesung „ein Mechanismus der Natur ist“. Sie ist Leben, das Leben der Fliegen und Maden nämlich zum Beispiel, auch ein Abbild und eine Folge des Lebens zuvor. Was hat einer gegessen? Wie ist eine zu Tode gekommen? Wie hat sie gelebt und was davon sieht man noch am Leichnam?
Klenk ist Chefredakteur des Wiener Wochenmagazins Falter, und er betreibt mit Reiter zusammen seit einer ganze Weile einen äußerst erfolgreichen Podcast namens Klenk+Reiter. Das Buch ist zugleich das Porträt eines umfassend gebildeten Mannes und einer Wissenschaft, die wie jede Wissenschaft äußerst präzise arbeitet, es ist geradezu ein Lehrstück über die Notwendigkeit dieser Genauigkeit, ohne die uns die Wahrheit oft verborgen bleiben würde (und vermutlich sehr oft auch bleibt).
Es ist auch ein Buch, das uns staunen lässt über diese Präzision, ein sehr lebendiges, gut zu lesendes Werk: über Fleisch-und Schmeißfliegen, den Geruch der Toten, über die Unbesiegbarkeit der Neugier und über die Frage, warum wir auch nach drei Monaten unter der Erde manchmal noch ganz rosa und faltenfrei aussehen können, ein Buch über unsere physische Natur und all das Ungeheure, das uns ausmacht.
Florian Klenk, Über Leben und Tod. In der Gerichtsmedizin, Zsolnay. 181 Seiten, 23 Euro