Es gibt ordentliche Menschen, die ordentliche Büros haben und unordentliche Menschen mit unordentlichen Arbeitszimmern. Dann gibt es noch unordentliche Menschen in ordentlichen Büros. Aber das sind Leute, die jemanden haben, der für sie Ordnung schafft.

Kommen wir nun zur letzten Kategorie: ordentliche Menschen, die im Chaos arbeiten.

Kommen wir zu mir.

Ich wollte diesen Text eigentlich mit einer Anekdote aus Friedrich Torbergs Die Tante Jolesch beginnen. Aber ich musste erst einmal eine geschlagene Dreiviertelstunde lang nach diesem Buch suchen. Torberg sollte eigentlich im Regal zwischen Süskind und Tucholsky stehen, so war es aber nicht. Ich fand das Buch nach langem Wühlen schließlich in einem (hier auch fotografisch dokumentierten) Bücherhaufen neben der Tür, unter einem Exemplar der großformatigen Kulturzeitschrift du aus dem Jahr 1999 und Natalia Ginzburgs schmalem Werk Kleine Tugenden.

Die Anekdote findet sich in den Kapiteln, die Torberg dem Prager Tagblatt gewidmet hat, jenem legendären deutschsprachigen Blatt, das bis 1939 in Prag erschien und zu dessen Mitarbeitern neben vielen anderen großartigen Autoren Joseph Roth, Max Brod und Alfred Polgar gehörten. Der Sportchef der Zeitung hieß Dr. Raabe-Jenkins, „der nicht zuletzt für die chaotische Unordnung in seinem Büro berühmt war“.  Diese Unordnung, so Torberg, „soll während der wirren Unruhen des Jahres 1918 bewirkt haben, daß das Gebäude des ‚Prager Tagblatt‘ von der Plünderung durch eine Horde tschechischer Radau-Nationalisten verschont blieb. Die Eindringlinge rissen als erstes die Tür zu Raabes Zimmer auf und machten angesichts des wüsten Bildes, das sich ihnen bot, mit den Worten ‚Hier waren wir schon‘ wieder kehrt.“

Sollte es aus irgendwelchen Gründen jemals zu Plünderungen in meinem Haus kommen, müsste man die Leute also zuerst in mein Arbeitszimmer geleiten – sie wären rasch wieder weg.

Es ist wirklich schlimm, vor allem für mich.

Ich habe es nämlich gerne ordentlich, und ich gelte auch allgemein als ordentlicher Mensch. Aber im vergangenen halben Jahr ist mir das Leben über den Kopf gewachsen. Ein schlimmer Krankheitsfall in der Familie verlangte, dass ich viel daheim war. Gleichzeitig hatte ich mehr zu tun als sonst: wie immer die Kolumne, dazu einige kleinere Aufsätze, die Arbeiten an meiner neuen Website, die am 1. Januar starten wird, auch wieder einige Lese-Reisen, sehr viel Leserpost und vor allem: das nächste Buch. Es wird im kommenden März erscheinen. Lange Zeit war ich mir nicht sicher, ob es fertig werden würde.

Aber ich habe es geschafft. Das Manuskript ist abgegeben, fertig lektoriert, es gibt ein schönes Cover, wie man hier sehen kann, der Titel gefällt mir auch: Ein Haus für viele Sommer. Worum es geht? Darüber ein anderes Mal mehr. Der Preis fürs Fertigwerden war jedenfalls eine Sieben-Tage-Woche über mehr als ein halbes Jahr, keine freien Wochenenden, keine Ferien.

Und ein Büro, das jetzt aussieht wie dieses. Jedes Buch, das ich benutzt habe, blieb dort liegen, wo darin etwas nachgeschlagen worden war. Versicherungsunterlagen befinden sich verborgen unter dem Material für das neue Buch. Riesige Stapel von Zeitungsartikeln, die ich für meine Kolumne zu brauchen glaubte, verdecken Notizbücher. Leserbriefe liegen in wirren Haufen neben Büchern, die Verlage mir schickten, in der Hoffnung …

Ja, in welcher Hoffnung eigentlich?

Irgendwo hier muss sich ein Stapel von SZ-Magazinen befinden, mit meinen Kolumnen, die ich archivieren wollte. Irgendwo soll sich mein Rentenantrag verbergen, den ich dringend abschicken muss. Irgendwo sollte der Werk-Katalog des Malers Thomas Weczerek sein, der das Titelbild meines neuen Buches gemalt hat. Irgendwo muss ja überhaupt auch dieses Bild von ihm sein, fällt mir gerade ein, irgendwo, irgendwo, irgendwo …

Dieses Büro wird mir langsam unheimlich. Ich kann mich nur noch auf Zehenspitzen zwischen Papierstapeln, Bücherhaufen, alten Zeitungen und sonstigem Altpapier bewegen, ja, Stalagmiten ähnlich, wächst der Krempel aus dem Boden empor, mancherorts hat er schon Hüfthöhe erreicht. Täuscht mein Gefühl, oder wächst das Zeug wie in Tropfsteinhöhlen auch schon von der Decke herab? Hängt Papierkram von oben bis zum Boden? Wird der Tag kommen, an dem ich wie eingemauert auf meinem Schreibtischstuhl sitze, vom Büroinhalt bis zur Bewegungsunmöglichkeit umgeben, mumifiziert in Zetteln, Karteikarten, Kalendern, Akten, Archivmappen?

Wird der nächste Brief aus dem Büro nur noch aus einem Wort bestehen?

HILFE!

Ich räume später auf, habe ich immer gedacht, später, wenn das Buch fertig ist. Über die Gefühle eines Autors, der ein Buch fertig geschrieben hat, müsste man auch mal was schreiben, wenn man Zeit hätte. Sie reichen von Punkt a) endlich ist das Buch fertig, was für ein herrliches, befreiendes Gefühl! bis Punkt z) das Buch ist doch gar nicht fertig, das bildest du dir nur ein, es wären noch tausend Dinge zu ändern, aber das geht ja wegen des Abgabetermins nicht.

Kurz: Im Grunde ist es schrecklich, ein Buchmanuskript abzugeben, es sollte so schlimme Dinge nicht geben, man sollte an einem Buch einfach immer weiterarbeiten dürfen. Aber wie sähe dann das Büro aus?

Die nächsten Wochen werden dem Aufräumen gewidmet sein.

Dann fange ich ein neues Buch an.