Wie alle Bahnfahrer bin auch ich sehr oft verspätet, das liegt meistens an der Bahn, an defekten Zügen, verpassten Anschlüssen, durch vorausfahrende Züge noch belegten Gleisen und kaputten Weichen.

Einmal vor vielen Jahren war es aber auch meine Schuld. Ich hatte eine Lesung in Menden im Sauerland gehabt und Andreas Wallentin, der liebenswürdige und rührige Buchhändler dort, war extra noch zum Bahnhof gekommen, um mir etwas Lesestoff für die weitere Reise zu bringen: Unerhörte Stimmen von Elif Shafak, einer sehr berühmten, in London lebenden türkischen Autorin. Ich kannte sie dennoch nicht, vertiefte mich sofort in das Buch und las gebannt Seite um Seite, so fasziniert, dass ich in Dortmund, wo ich hätte aussteigen müssen (denn die nächste Lesung war in Bochum, wenn ich mich recht entsinne), auszusteigen vergaß – was mir erst in Düsseldorf auffiel.

Ich fuhr also mit dem nächsten Zug bochumwärts, las weiter Elif Shafak und schaffte es gerade noch so ins Schauspielhaus.

Und nun schreibt mir Frau B., sie müsse auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz in Hamburg jeden Tag eine längere Strecke mit der U-Bahn zurücklegen. Auf diesen Fahrten habe sie in etlichen Jahren schon viele Bücher gelesen. Bisher hätten sie aber nur zwei Lektüren am rechtzeitigen Aussteigen gehindert: Siegfried Lenz' Deutschstunde und Fontanes Effi Briest. Bei beiden habe sie jeweils eine Station verpasst.

Nun aber habe sie Im Bann des Eichelhechts gelesen und gleich vier Stationen zu spät gemerkt, dass sie längst hätte aussteigen müssen.

Sie schreibt:

„Mit einem Lächeln auf den Lippen über die ‚Kichererben‘ stieg ich wenig später in die U-Bahn in Gegenrichtung ein. Jetzt unterlief mir ein schwerwiegender Fehler: Ich begab mich bei der Aussicht auf die längere Rückfahrt erneut in den Eichelhecht-Bann und fuhr abermals drei Stationen über meinen Zielbahnhof hinaus ... eine unendliche Geschichte, wenn ich mir beim dritten Anlauf, meine Arbeitsstätte zu erreichen, nicht das Lesen Ihres Buches verboten hätte. Natürlich kam ich deswegen später an und selbstverständlich fragten die Kollegen nach dem Warum. Ich hätte etwas von einem Unfall, von Baustellen, Weichenstörungen, von Störungen im Betriebsablauf oder technischen Problemen etc. erzählen können und die Kollegen wären mit meiner Ausrede aufgrund der Erfahrungen ihrerseits mit solcherlei Vorfällen zufrieden gewesen, aber ich war ehrlich und erzählte vom Eichelhecht-Bann.

Zum Glück bin ich mit humorvollen Kollegen gesegnet. Zum einen ist nun bei vielen von ihnen das Interesse an einer Selbsterfahrung mit Eichelhecht-Bann geweckt worden und zum anderen haben wir nun in unserem Betrieb einen neuen Fachbegriff fürs Zuspätkommen wegen eines Leseunfalls, einer Störung im Lektüreablauf, einer Aufmerksamkeitsstörung durch den Eichelhecht-Bann oder einer Eichelhecht-Panne. Vielleicht sollten zukünftig besonders eichelhechtbanngefährdete Bücher mit Warnhinweisen für Bahnfahrer gekennzeichnet werden. Ob das dann hilft, sei dahingestellt.“

Apropos: Wie wäre es eigentlich, die Bahn würde künftig bei Verspätungen einfach Bücher an die Fahrgäste verteilen? Meinetwegen auch meine. Aber selbstverständlich nicht an die Lokführer, bitte.