Eine meiner literarischen Lieblingsformen ist die Anekdote.

Und eines meiner Lieblingsbücher seit Jahrzehnten ist deshalb Friedrich Torbergs Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten, 1975 erschienen. Ich bin immer wieder erstaunt, dass es so viele Menschen gibt, die dieses Werk nicht kennen, und denen man erklären muss, wer Torberg war, aber so ist das Leben: Auch das Beste gerät in Vergessenheit, vielleicht gerade das Beste.

Also, bitte: Torberg war Schriftsteller, Journalist, Drehbuchautor, Übersetzer unter anderem der Werke Ephraim Kishons (ist der noch bekannt?), ja, manche sagen, Kishon sei in Deutschland überhaupt nur deswegen so berühmt geworden, weil Torberg ihn so gut übersetzt habe. Er selbst schrieb sehr gute Romane, Der Schüler Gerber ist einer der bekanntesten (na ja, bekannt ist, wie gesagt, relativ), unbedingt empfehlenswert auch er.

Die Tante Jolesch ist ein Sammlung von gehörten und selbst erlebten, von Torberg brillant geschriebenen Anekdoten aus dem jüdischen Leben vor allem im Wien und Prag der Jahre zwischen den Kriegen, ein so wehmütiges wie witziges Werk über eine untergegangene, verlorene Welt, in der von Friseuren, Kellnern, Bergwerksbesitzern, Malern, Redakteuren, Komponisten, Lebenskünstlern und eben der Tante Jolesch erzählt wird. Die kommentiert zum Beispiel einen Bericht ihres Neffen Franz über einen zuvor erlebten Autounfall (der – also der Bericht jetzt – mit den Worten endet „Noch ein Glück, daß ich mit dem Wagen nicht auf die Gegenfahrbahn gerutscht bin, sondern ans Brückengeländer“) mit der ewig gültigen Weisheit: „Gott soll einen hüten vor allem, was noch ein Glück ist“.

Warum erzähle ich das?

Weil ich schon seit Jahrzehnten und gerade jetzt immer wieder sehr schöne Anekdoten von Leserinnen und Lesern geschickt bekomme, und weil ich tief gerührt davon bin, dass so viele Menschen, wenn Ihnen etwas Schönes, Lustiges oder Interessantes passiert, denken:  dass schicke ich mal dem Axel Hacke.

Hier drei der schönsten Anekdoten aus der letzten Zeit.

Viele von uns haben ja gelegentlich Alpträume, aus denen man entsetzt erwacht, Leser H. aber erzählte mir, er habe immer wieder Lachträume, diesen hier zum Beispiel, um den man ihn wirklich beneiden muss. Er schrieb mir:

„Es war einmal ein Haus, in dem lebten zwei Freunde. Einer von beiden hatte noch beide Eltern, rüstig, Mitte 70, und recht aktiv. Der Vater pflegte im Schrebergarten sein Hobby, die Brieftauben. Wenn nun ein solcher ‚Taubenvatter‘ (Mütter sind mir in diesem Zusammenhang nicht bekannt) seine Täubchen in den Schlag locken möchte, macht er oft ein gurrendes Geräusch und dann eilen sie herbei. Des Freundes und der Tauben Vatti hatte sich und seinen Tieren aber angewöhnt, auf den Ruf ‚Komm wacker komm, komm wacker komm, komm wacker komm, komm wacker komm‘ zu hören und dabei in eine taubenartige Sprachfärbung zu verfallen.

Nun träumte ich so vor mich hin und befand mich plötzlich in einem großen, voll besetzten Zirkus. Das Licht ging aus, der Spot ging an und mein Kumpel betrat die Manege in Begleitung seiner Eltern. Sie waren mit glitzernden Klamotten bekleidet und bestiegen rasch die bereits vorbereitete Vorrichtung für die bevorstehende Trapeznummer. Mutter und Sohn kletterten hinauf und waren schnell bereit in der Position zum Absprung. Der Vater hatte sich auf der anderen Seite als ‚Fänger‘  die Stange in die Kniekehlen geschoben und begann durch die Manege zu schaukeln, immer von dem für ihn eingerichteten Spot begleitet. Die Mutter stand eigentlich bereit - aber - sie zögerte.

Hatte sie Angst? Wartete sie auf den richtigen Zeitpunkt?

Da rief der Vater plötzlich: ‚Komm wacker komm, komm wacker komm, komm wacker komm‘ - ...

Leider kann ich nicht weiter erzählen, denn der Traum endet hier. Ich wurde, von einem Lachkrampf geschüttelt, wach.“

Leserin D. schrieb mir folgende Geschichte:

„Ich arbeitete in einem Callcenter der Telefonauskunft. Eine ältere Anruferin aus dem tiefsten Bayern wollte im Nachbarort einen Herrn Doktor Mayr sprechen. Leider konnte ich keinen finden, aber mehrere ähnliche, z. B. Herr Dr. Meyr, Herr Dr. Mair, Herr Dr. Meier, außerdem einen Herrn Dipl. med. Mayr. Sie bestand aber auf Schreibweise und Doktortitel. Also sagte ich zu ihr: Das einzige, was ich finden kann, ist eine Frau Dr. Mayr. Daraufhin sagte sie: Geben Sie mir bitte die Nummer, VIELLEICHT HAT SICHS JA GEÄNDERT.“

Und dann wäre da noch die Anekdote von Herrn S., die ihm von einer guten Freundin aus Wien berichtet wurde:

„Die zwölfjährige französische Austauschschülerin verabschiedete sich nach ihrem Aufenthalt in der Wiener Gastfamilie zurück in Paris gerne mit einem beherzten Sacalá. Das sage man so in Österreich zum Abschied. Die Eltern des Kindes und auch die Mutter der Gastfamilie in Wien rätselten daraufhin wochenlang, um welche österreichische Floskel es sich handeln könnte und fanden keine Lösung. Bis es meiner Freundin eines Tages im Billa-Supermarkt ums Eck auffiel, dass die dortige Verkäuferin jede Kunden mit einem freundlichen ‚Woin´s a Sackerl a?‘ verabschiedete.“

Ich grüße alle mit einem herzlichen Sacalá!

PS:

Aber die Geschichte von Frau S. möchte ich doch auch noch erzählen:

„Vor vielen Jahren, ca. 1998, besuchte ich in Witten eine Fortbildung  und ging noch ein wenig spazieren. Ich kam, wie ich am Ladenschild Brotkorb zu erkennen glaubte, an einer Bäckerei vorbei. Ich konnte allerdings nicht nachvollziehen,  warum sich eine Bäckerei ausgerechnet Urnen ins Schaufenster  stellte. Es hat ein bisschen gedauert, bis ich realisiert hatte, dass ich vor dem Schaufenster eines Bestattungsunternehmens stand. Ich habe soeben gegoogelt ... das Unternehmen gibt es immer noch ...“