In meinem ersten Buch, Nächte mit Bosch, 1991 erschienen, gibt es eine Geschichte namens Mensch, danke, Onkel Oskar. Es geht darin um einen Großonkel von mir, einen Bruder meines Großvaters. Er lebte in Berlin, besuchte uns aber dann und wann in meiner gut 200 Kilometer entfernten Heimatstadt. Das Seltsame war, dass er jedes Mal mit einem Lkw vorfuhr, als Beifahrer allerdings. Und immer brachte er Bananen mit, warum auch immer. Er hatte sonst nichts dabei, nur Bananen für uns.

Er trampte, mit über siebzig Jahren. An der Halle des West-Berliner Blumen-Großmarktes beim Checkpoint Charlie fragte er Lastwagenfahrer, ob sie ihn mit nach Westdeutschland nehmen würden, und wenn er zurück nach Berlin fuhr, stellte er sich an die Autobahnausfahrt und hielt den Daumen hoch. Er war schwerhörig und wohnte in Kreuzberg. Als ich mit 16 zum ersten Mal in Berlin war, besuchte ich ihn dort. Wir saßen zusammen in seiner Wohnung, später auch in seinem Schrebergarten und mochten uns gern. 

Mein Onkel Otto.

Der Onkel in der Geschichte heißt aber Onkel Oskar. Dieser Oskar ist anfangs genauso wie Onkel Otto. Dann aber geschieht etwas, das in der schnöden Wirklichkeit nie geschah: Onkel Oskar besitzt nämlich eine Buchstabiermaschine, „ein silbern glänzendes Ungetüm, das die gesamte Tischfläche in Anspruch nahm“. Dieser Apparat macht aus Buchstaben seltsame und schöne Wörter, finnische, ungarische, deutsche, Tyytymättömyys, Ördögök, Blaulappenhokko, solche Sachen. Ununterbrochen spuckt das Gerät Wörter dieser Art aus, aber die Sache entgleist irgendwann, und …

Egal, darum geht es hier nicht.

Der Onkel Otto war so beschaffen, dass ich aus ihm eine Geschichte machen musste, ein Wunderwesen geradezu in der engen und spießigen Welt meiner Eltern, ein greiser Tramper mit Bananen im Gepäck. Er war ein Pfeil der Phantasie, der irgendwie in mein Leben geschossen wurde, Gott sei Dank.

Die Geschichte ist, wie gesagt, mehr als dreißig Jahre alt, und in meiner Erinnerung sind Onkel Otto und Onkel Oskar inzwischen so miteinander verwoben, dass ich manchmal schon gar nicht mehr weiß, welcher von beiden der reale und welcher der erfundene war. Und dass es eben so ist, gefällt mir sehr gut, wenn ich in meinem Büro sitze und meine eigene Buchstabiermaschine bediene.

Was ich hier beruflich mache, ist manchmal so eine Art Verwandlungsarbeit. Ich entnehme der Wirklichkeit Menschen und Gegenstände, jage sie durch meine Gehirngänge und lasse sie in einer Kolumne, einer Geschichte, einem Buch auf eine andere Weise weiterleben. Dem liegt eigentlich immer dieselbe Frage zu Grunde, nämlich: Wie wäre die Welt, wenn … ?

Warum sprechen alte Kühlschränke nicht – und wie wäre es, wenn sie es täten? Was geschähe, wenn hinter meinem Bücherregal ein kleiner König namens Dezember lebte? Was wäre gewesen, wenn der kleine Teddybär, den ich mal hatte, Sonntag geheißen hätte und man ihn in die Waschmaschine gesteckt hätte? Wie würde es sein, wenn ich Gott tatsächlich mal persönlich kennenlernte?

Auf diese Weise ist Bruno, mein alter Freund entstanden, der in vielen Kolumnen im Süddeutsche Zeitung Magazinvorkommt, auch in der aktuellen. Ich kenne nämlich eigentlich niemanden namens Bruno. Aber fast jeder, den ich im wirklichen Leben treffe, kann zum Bruno in einer Kolumne werden. Und so ist auch Mimmo in die Welt gekommen, der gewandteste, höflichste und am umfassendsten gebildete Kellner der Welt, von dem in Ein Haus für viele Sommerdes Öfteren die Rede ist.

Von diesem Buch war jetzt oft in Rezensionen zu lesen, es spiele auf der Insel Elba. Das ist wahr und falsch zugleich. Wahr ist, dass die geschilderte Insel in vielem Elba entspricht. Falsch ist: Elba und das Dorf, in dem wir dort leben, waren nur die Inspiration für Insel und Dorf im Buch, sie waren sozusagen der Onkel Otto, und die Geschichten im Buch sind der Onkel Oskar. Vieles von dem, was erzählt wird, hätte auf Elba geschehen können. Es ist aber nur in meiner Phantasie passiert.

Den Mimmo in der Bar, die im Buch immer nur die ganz bestimmte Bar heißt, gibt es allerdings ebenso wie die Bar. Er heißt bloß in Wahrheit, pssst, ganz anders.

Als wir im vergangenen Frühjahr in unser Dorf kamen, zum ersten Mal nach Erscheinen des Buches (das es auf Italienisch bisher nicht gibt und das unser Mann in der ganz bestimmten Bar also nicht kennen konnte), betraten wir eben diese Bar. Zuerst wurde meine Frau begrüßt, herzlich und ausführlich. Dann drehte sich Mimmo, der nicht Mimmo heißt, zu mir um und sagte:

Piacere, Mimmo. Angenehm, Mimmo.

Es war nämlich so gewesen, dass Leserinnen und Leser die Bar ausfindig gemacht hatten. Sie hatten dann den, der ganz anders heißt, gefragt, ob er Mimmo sei. Und er hatte wahrheitsgemäß gesagt, nein, er sei der, der ganz anders heißt.

Aber welcher hier dann Mimmo sei … ?

Niemand. Warum? Wie sie denn auf Mimmo kämen ... ?

So hatte der, der ganz anders heißt, von dem Buch erfahren und davon, dass ich mir gestattet hatte, ihn ein wenig zu verwandeln. Er hat es mir nicht übel genommen, sondern sich im Gegenteil sehr gefreut, und das hat wiederum mich sehr, sehr gefreut. Man weiß ja nie, was die Menschen davon halten, wenn man sie einfach so verwandelt. Onkel Otto hat zum Beispiel nie davon erfahren, er ist schon in den siebziger Jahren gestorben, lange vor meinem ersten Buch.

Aber in der ganz bestimmten Bar, in dem Augenblick, in dem Mimmo mich begrüßte, hatte ich auf einmal – und wirklich nur für einen kurzen Moment – das seltsame und tatsächlich beglückende Gefühl, als drückte tatsächlich Mimmo mir die Hand, den es nur in einem meiner Bücher gibt. Als begrüßte mich ein von mir erfundener (und gleichzeitig eben doch ganz realer) Mensch.

Es war echt überwältigend.