Leser S. schickte mir einen Artikel, der im vergangenen Sommer im New Yorker erschienen ist und sofort mein ungeteiltes Interesse fand. Es geht um das Missverstehen eines gesungenen Textes, in diesem Fall Bruce Springsteens Thunder Road. Dazu gleich mehr.

Ich hatte mich lange nicht mehr mit dem Thema beschäftigt, es aber Anfang dieses Jahres bei der Arbeit an Im Bann des Eichelhechts und andere Geschichten aus Sprachland wieder aufgenommen, weil ich einfach einige sehr schöne Funde ungenutzt im Archiv hatte. Die passten wunderbar ins Sprachland, und so habe ich zum Beispiel den Song Pflaster von Ich + Ich im Buch erörtert (wobei das erste Ich Annette Humpe war, beim zweiten handelte es sich  um Adel Tawil).

Es heißt da:

Du bist das Pflaster für meine Seele

Wenn ich mich nachts im Dunkeln quäle

Es tobt der Hass, da vor meinem Fenster …

Aber so verstanden es nicht alle Hörer. Viele, die mir schrieben, hörten dies:

Du bist das Flachdach für meine Seele

Wenn ich mich nachts im Dunkeln quäle

Es tobt der Hamster vor meinem Fenster …

Im Buch heißt es:

„Was für ein schöner, dunkler, poetischer, komplett unverständlicher und gerade deswegen höchst reizvoller Text, viel besser als das ja nun auch wahrlich nicht schlechte Original.

‚Ich fragte mich immer beim Hören dieses Liedes: Welche Rolle spielt der Hamster in der Beziehungskrise des Paares?‘, schrieb mir Herr S. ‚Hatte sie ihn heimlich ausgesetzt … um den Partner zu ärgern … weil es sein Hamster war …?‘

Ja, das ist erwägenswert. Aber mit den Jahren hat mich doch immer mehr als der tobende Hamster dieses Flachdach beschäftigt: dass es tatsächlich möglich ist, über einer Seele ein Flachdach zu errichten, überhaupt einen anderen Menschen als Überdachung und Behausung des eigenen Inneren zu empfinden und dies auch so genau zu benennen, nicht als Walm-, Kup-fer- oder Ziegeldach, sondern eben als Flachdach – das ist schon sehr bedeutsam und treffend und lässt den tobenden Hamster irgendwie in den Hintergrund treten.“

Aber gerade jetzt, da ich mir die Sache noch mal neu vornehme, merke ich, dass ich im Buch etwas vergessen habe: Viel besser als „Flachdach für meine Seele“ würde ja „Flachdach für meine Säle“ passen, das reimt sich wirklich auf „quäle“. Bloß würde daraus dann so etwas wie der Song eines zugedröhnten Eventmanagers, der seiner Geliebten vorlallt, er könne sie als Flachdach für seine vielen Veranstaltungsräume gebrauchen.

Uncharmanter geht es kaum. Aber so sind Eventmanager vielleicht.

Nun aber zu dem Artikel im New Yorker.  David Remnick hat ihn geschrieben, der Chefredakteur. Das gab der Sache schon mal ein Gewicht.

Es geht um einen Tweet von Maggie Haberman, der berühmten White House-Korrespondentin der New York Times. Sie hatte im Juli, als die Theater am Broadway wieder öffneten, das erste Konzert dort von Bruce Springsteen besucht und noch vor dessen Beginn ein Foto der menschenleeren Bühne getwittert, dazu die ersten Zeilen aus Thunder Road.

A screen door slams, Mary’s dress sways.

Eine Fliegengittertür knallt zu, Marys Kleid schwingt.

Das Problem war jetzt nicht so sehr, dass es The screen door hätte heißen müssen, was sogleich von etlichen Lesern angemerkt wurde. Sondern dass sehr viele Menschen der Ansicht waren, es heiße doch im Song:

The screen door slams, Mary’s dress waves.

Wie bitte?

Die Fliegengittertür knallt zu, Marys Kleid winkt?

Na gut, to wave würde in diesem Fall nicht winken bedeuten, sondern flattern oder wehen. Könnte passen, aber nicht wirklich gut.

Die Fliegengittertür knallt zu, Marys Kleid flattert.

Aber was singt Springsteen denn nun?

Er selbst äußerte sich nicht auf Twitter dazu und auch sonst nirgendwo. Steven Van Zandt, lange Gitarrist in der E Street Band Springsteens, twitterte nur ärgerlich Get this Bruce lyric shit outta my feed! Ich habe mir den Song daraufhin noch mal selbst angehört, ein Video von einem Live-Konzert 2018 in Barcelona. Es wurde klar, was ohnehin klar ist: Springsteen singt den Text nun wirklich nicht besonders deutlich, die einzelnen Wörter verschwimmen und gehen ineinander über, am Anfang ist weder ein The noch ein A zu erkennen, eigentlich gar nichts. Sways oder waves? Keine Ahnung.

Remnick zitiert einen Artikel aus der Los Angeles Times. Der Autor hatte verschiedene Musiker interviewt, die den Song selbst gesungen oder ihn sogar mit Springsteen zusammen aufgeführt hatten. Und hier wird es nun wirklich lustig.

Denn keiner wusste es genau. Die einen sagten so, die anderen so.  Frank Turner, ein Brite, sagte sogar, er sei bekannt dafür, immer swaves gesungen zu haben, praktisch ein Kompromiss, aber ohne jede Bedeutung, weil es ein Verb to swave nicht gibt.

Noch lustiger ist: Sowohl auf Springsteens offizieller Website als auch in seinem Songbook heißt es:

Mary’s dress waves.

Aber auf Seite 220 seiner Memoiren sowie in seinen vor ein paar Jahren bei Sotheby’s versteigerten handschriftlichen Zeilen stehe, so Remnick:

Mary’s dress sways.

Remnick entschloss sich, an Jon Landau zu schreiben, lange Manager und Produzent von Springsteen – denn: „Außer Springsteen selbst könnte niemand eine endgültigere Antwort als Landau geben.“

Landaus Antwort war eindeutig, und sie war vernichtend für die wave-Fraktion.

„Es heißt sways. So hat er es in seinen Original-Notizbüchern geschrieben, so hat er es auf Born to Run 1975 gesungen, so hat er es immer in tausenden von Shows gesungen, und so singt er es genau jetzt am Broadway. Andere Schreibweisen im offiziellen Material von Bruce werden korrigiert … “

Er fügt hinzu: “And, by the way, ‚dresses‘ do not know how to ‚wave’.” Kleider können nicht winken.

Sag’ ich doch!

Ach, ich liebe es. Es ist großartig, einer so komplett unwichtigen Angelegenheit bis ins Letzte nachzugehen – und dann ein Rätsel sogar zu lösen. Was wäre das für ein schönes Kapitel in einem der Wumbaba-Bände gewesen, meinetwegen auch im Eichelhecht?!

Zu spät. Aber wenigstens hier konnten wir doch die Sache klären, und das macht mich sehr zufrieden.